Krise nach einer Zwillingsaufstellung, und der Abschied von einem abgetriebenen Kind
Angela (Name geändert) hat an einem Aufstellungsseminar teilgenommen, bei dem sie sich von einem verlorenen Zwilling verabschiedet hat. Danach geht es ihr nicht gut, sie spürt „erdrückende Sehnsucht und schreckliche Einsamkeitsgefühle“. Eine derartige Reaktion nach einer Zwillingsaufstellung ist mir noch nie begegnet. Daher schlage ich ihr einen Telefontermin vor. Im Telefon-Gespräch erzählt sie, dass sie zweimal ein Kind abgetrieben hat, und beide schon verabschiedet hat. Sie ist jetzt in einer Ausbildung zum Familienstellen und hat gerade ein Skript zu dem Thema gelesen, das bei ihr massive Schuldgefühle wegen der Abtreibung ausgelöst hat. Ich vermute, dass das Thema Abtreibung ihre Reaktion verursacht hat, - und nicht das Zwillingsthema - und schlage ihr eine Kurzintervention am Telefon vor: Der Abschied von einem abgetriebenen Kind. Zunächst erkläre ich ihr, dass aus meiner Sicht eine Schwangerschaft eine so tiefgreifende Herausforderung für den Lebensplan einer Frau ist, dass sie das Recht hat, sich gegen das Kind zu entscheiden, das heisst, es abzutreiben. Für eine Frau ist das immer ein sehr schmerzlicher Schritt. Wenn in einer Aufstellung eine Vertreter*in für das abgetriebene Kind aufgestellt wird, dann spürt dies niemals Vorwürfe oder Groll. Es fühlt sich mit seinem Schicksal einverstanden. Aber es tut ihm weh zu sehen, dass die Mutter seinetwegen Schuldgefühlen leidet. Der Abschied von einem geliebten Wesen ist immer schmerzlich, umso mehr, wenn es sich um ein eigenes Kind handelt und wenn man selber sich zur Abtreibung entschieden hat. Aber dieser Schritt ist für die ganze Familie so wichtig: für die Mutter, für den Partner (Eltern sollten sich gemeinsam von ihrem abgetriebenen Kind verabschieden! Dann können sie wieder eine tiefe Verbindung zueinander spüren.) Wichtig auch für die lebenden Kinder, die sich sonst mit dem abgetriebenen identifizieren. Daher empfinde ich es als übergriffig und unangemessen, wenn andere – meist Männer, oder auch Therapeut*innen - da von Mord reden und dadurch bei der Frau zusätzlich massive Schuldgefühle auslösen, und so das Gelingen eines Abschieds von dem Kind blockieren. Um sich verabschieden zu können, scheint es ausserdem erforderlich, zuvor das Kind zu begrüssen, auch wenn das im Falle einer Abtreibung paradox erscheint. Und ich frage Angela, ob sie zu einer derartigen Kurzintervention am Telefon bereit ist. Sie stimmt zu. Ich schlage ihr vor, folgende Schritte zu imaginieren und diese Sätze zu sprechen, die sich mir seit 20 Jahren als lösend bewährt haben:
1. „Du bist mein Kind und du gehörst zu meinem Leben. Ich habe mich damals gegen dich entschieden – und ich stehe dazu!“ Auch wenn z.B. ein Partner oder die eigenen Eltern zur Abtreibung drängen, für das Gelingen des Abschieds ist es entscheidend, dass Frau Verantwortung für ihre Entscheidungen übernimmt. Das bedeutet, dass Frau auch zu den Konsequenzen dieser Entscheidung steht: sie kann dies Wesen nicht ins Leben begleiten. Sie wird dies Kind nie wachsen sehen. Das ist sehr schmerzlich. 2. Begrüssung. Um sich von dem Kind verabschieden zu können, muss sie es zunächst begrüssen – eigentlich eine Binsenweisheit, die jedoch in diesem Zusammenhang merkwürdigerweise meist vergessen wird. „Ich achte es, dass du zu mir kommen wolltest. Ich konnte mich damals nicht über dich freuen, ich konnte dich nicht begrüssen. Das hat nichts mit dir zu tun – und das hast du auch nicht verdient!“ Und dann stellt sie sich vor, dass sie das ungeborene Wesen liebevoll in die Arme nimmt, und die Liebe fliessen lässt, die sie – trotz allem – für dies Kind gehabt hat. Solange, bis es gut ist. 3. Abschied. Für das Kind ist es schon lange vorbei, und es könnte schon lange seinen Frieden gefunden haben, wenn die Mutter es nicht durch ihre Schuldgefühle festhalten würde! Das Kind kann nicht gehen – und die Mutter kann sich nicht wieder dem Leben zuwenden, da verlieren beide!Damit es beiden besser geht, ist folgender Schritt erforderlich: „Für dich ist es schon lange vorbei! Und ich muss dich nicht mehr durch meine Schuldgefühle festhalten! Du bist jetzt frei, dahin zu gehen, wo du deinen Frieden findest!“ Danach imaginiert die Mutter, dass sie das Kind zurück auf ein Kissen legt, und dass es sich entfernt, um „dahin zu gehen, wo es keinen Schmerz gibt und keine Schuld, nur Liebe und Licht!“
Dieser Abschiedsprozess löst sehr viel Schmerz aus. Das ist der Abschiedsschmerz. Ein gesunder Schmerz. Wenn sie durch diesen Schmerz hindurch geht, dann öffnet sich eine Türe zum „Hier und Jetzt“. Danach kann ein tiefer Friede entstehen.
Rückmeldung: Ich danke Dir für Deine liebevolle und einfühlsame Führung gestern. Bisher habe ich mich nur mit Schuldgefühlen und Selbstbestrafung herum geschlagen. Zum ersten Mal habe ich erlebt, dass auch mein Schmerz über den schweren Verlust Platz bekommen hat. Damit ist es mir gelungen meine Kinder ( 2 Abtreibungen 1 Fehlgeburt)ziehen zu lassen. Ich habe , so wie es immer wieder verwechselt wird, Verantwortung übernehmen mit Betrafung verwechselt. So saß ich über Jahre in der Büßerfalle und habe, ohne es zu wissen, durch Schuldgefühle die Kinder an mich gebunden. Ich hatte in der letzten Zeit unfassbare Sehnsucht und einen starken Kinderwunsch. Ich hatte Schmerzen in den Brüsten entwickelt und verstärkte Blutungen. Das Thema war reif. Es geht mir deutlich besser, ich darf glücklich sein und ich bin liebevoll. Vor allem auch eine liebevolle Mutter. Angela Kommentar Diese letzten zwei Sätze der Klientin sind sehr bemerkenswert. Schuldgefühle können dazu führen, dass die Liebe der Mutter zu den lebenden Kindern blockiert wird, so als müsse sie sich gegenüber dem abgetriebenen Kind schuldig fühlen, wenn sie ihre lebenden Kinder liebt. Durch Schuldgefühle bleibt sie gebunden – und hält das abgetriebene Kind in ihrem „eigenen Raum“ fest. Diese Dynamik scheint auch dazu beizutragen, dass ein lebendes Kind auf der Suche nach der nicht erreichbaren Mutter im Raum der Mutter diesem – totgeschwiegenen – Geschwister „begegnet“, und sich mit ihm identifiziert - vielleicht, um für die Mutter genauso „wichtig“ zu sein? Wenn es der Mutter gelingt, die Entscheidung gegen ein Kind, und den Abschied von ihm als schmerzlich, aber im Grunde als etwas Natürliches zu sehen, dann ist das für sie selbst - und für die ganze Familie - sehr entlastend.
GRUNDGESETZ DES LEBENS? Hier wird etwas deutlich, das man als „das Grundgesetz des Lebens“ bezeichnen könnte: Alles ist in ständiger Veränderung. Wenn Geben und Nehmen gelingt, wenn Verabschieden und Begegnen möglich ist, dann ist im Fluss. Durch besitzergreifende „Liebe“, aber auch durch Schuldgefühle oder durch Vorwürfe, halten wir den anderen fest. Und wir sind gleichzeitig selbst gebunden, das heisst, wir sind nicht frei für den Fluss des Lebens.
Daher ist der Verzicht auf eine Liebe, die besitzen möchte, daher ist Versöhnung und die Bereitschaft zum Abschied-Nehmen die Voraussetzung für unsere Teilhabe am Fluss des Lebens. Dieser Lösungsprozess erscheint auch als Do it Yourself-Format auf der homepage!
Von einer Leserin des Newsletters bekam ich fogende Zuschrift: vielen Dank für den so berührenden Newsletter! Ich habe noch nie jemanden gehört/gelesen, der so voll Respekt vor den Frauen und ihren Eintscheidung spricht.
Aber erzählen möchte ich etwas ganz anderes. Ich hatte schon seit einiger Zeit wieder das Gefühl, dass "etwas" oder "jemand" da in mir hockt, aber nicht hierher gehört. Ich hatte ja bei und mit dir eine Zwillingsschwester verabschiedet, es fühlte sich aber so an, als wäre da noch ein Zwilling. Ich wollte dir schon schreiben und fragen, ob es nicht auch Drillinge gewesen sein könnten und ich mich daher von noch einem zweiten "Zwilling" verabschieden müsste. - Ich hatte noch nicht geschrieben, wie Du weißt.
Dann lese ich Deinen Newsletter und bemerke, dass meine Augen über dem Satz "Wichtig auch für die lebenden Kinder, die sich sonst mit dem abgetriebenen identifizieren" einfach stehengeblieben sind und nicht weiterlesen. Mein Verstand hat gefragt, warum. Ich war wie in leichter Trance. Und dann ging alles blitzschnell: Ich brach in Tränen aus und spürte heftigen Schmerz, dass ich dieses Geschwisterchen nie in den Armen halten durfte (ein paar winzige Mosaiksteinchen aus meinem Gedächtnis ließen es auch durchaus plausibel erscheinen, dass da einmal ein gewollter oder ungewollter Abortus bei meiner Mutter stattgefunden hatte, als ich etwa fünf Jahre alt war.) Mein inneres Gegenüber war aber ganz hellen Mutes, doch so etwas wie "Fff, das hat aber ein bisserl lang gedauert, bis du mich wahrnimmst!" kam zu mir herüber. Es ging dann gar nicht so sehr um Begrüßen, sondern um wahrnehmen, was ist, damit die Geschichte weitergehen kann. Und diese Geschichte hat sich mir dann erzählt, viel schneller, als es sich hier wiedergeben lässt: Solche Seelen können in diesem Zustand noch ein gut Stück in die Erden-Zukunft schauen, wurde mir vermittelt, und dieses Geschwister hatte beschlossen, bei mir zu bleiben, um mir durch diese extrem anstrengende und immer wieder an den Rand völliger Verzweiflung bringende Kindheit und Jugend zu helfen. Das Versprechen dieser zutiefst vertrauenswürdigen Stimme in meinem inneren damals, die in großer Gewissheit immer wieder sagte, "Das hier geht vorbei. Es wird alles gut." hat mir sehr geholfen, auch wenn ich überhaupt nicht sehen konnte, was diese Gewissheit, durchzukommen, begründen könnte. - Aber jetzt sind eben all diese Schrecken tatsächlich schon eine Weile vorbei. Bevor sie (er? es?) aber gehen konnte, war es nur fair und auch notwendig, dass ich mich bedanke - was ich aus vollem Herzen tat. Und das war dann auch schon der Abschied. Ich wollte noch diesen Wunsch aussprechen, "... dorthin, wo es nur Licht, Liebe und Frieden gibt", aber sie war schon mit einem liebevollen Lächeln verschwunden. Auch der verzweifelte Schmerz war weg, wenngleich eine Wehmut und ein bisschen Trauer bis heute da ist, dass ich dieses Geschwisterchen in diesem Leben nicht umarmen konnte.