Um eine gendergerechte Schreibweise mit Lesbarkeit zu verbinden, verwende ich für „den Therapeuten“ durchgehend die weibliche, und für „den Klienten“ durchgehend die männliche Form.
1. AUFSTELLUNG ALS DIAGNOSTISCHES INSTRUMENT
1.1 Beziehungsklärung Wenn ein Klient, seinem Gefühl folgend, seine Beziehung zu einer anderen Person aufstellt, mit Hilfe von Repräsentanten, dann entsteht das Aufstellungsbild. Das Aufstellungsbild und die Rückmeldungen der Repräsentanten machen eine innere Befindlichkeit sichtbar und dadurch bewusst, welche das Selbstbild und die Wahrnehmung des Klienten bestimmt – und und damit auch sein Verhalten. Ohne dass ihm das immer bewusst ist.
1.2 Vier Dimensionen Der diagnostische Wert der Systemaufstellung beruht darauf, dass sie vier Dimensionen zu Verfügung stellt:
Die zwei Dimensionen der Fläche (z.B. längs und quer) sind geeignet, auch bei komplexen Beziehungen nicht nur • Nähe und Distanz zwischen den Elementen zu symbolisieren, sondern auch Phänomene wie • Unterscheidung zwischen Eigenem und Fremden und • das Wahrnehmen und Respektieren von Grenzen zu symbolisieren.
Die dritte Dimension höhere oder tiefere Ebene erweitert die Fläche zum Raum und macht es möglich, die Phänomene Überlegenheit/Unterlegenheit zu symbolisieren.
Die vierte Dimension betrifft die Zeitachse, das heisst die Unterscheidung zwischen dem Gegenwärtigen – „Hier und Jetzt“ – und dem Vergangenen,
Grenzen und Räume Diesen vier Dimensionen lassen sich unterschiedliche Grenzen zuordnen, die deutlich oder aber auch aufgelöst sein können. Je nachdem sind auch die dadurch entstehenden unterschiedlichen Räume – Eigenes und Fremdes, Gegenwärtiges und Vergangenes – eindeutig, oder verschwommen.
1.3 Trauma-Dynamik in der Aufstellung Um durch eine Aufstellung die Auswirkung einer belastenden Erfahrung auf die innere Dynamik der Selbst-Verbindung oder Selbst-Entfremdung zu untersuchen, hat es sich bewährt, zusätzlich Repräsentanten für das SELBST und für eine belastende Erfahrung („Trauma“) aufzustellen, Das SELBST wird hier verstanden als das „wahre Selbst“, als der eigene Wesenskern, der seinen Wert und seine Würde in sich selber besitzt, unabhängig davon, ob der Betreffende etwas leistet, oder für andere nützlich ist.
Ich und Selbst Das Ich (oder Fokus) wird verstanden als der Persönlichkeitsaspekt, der sich – angefangen vom zweijährigen Kind bis zum 80-jährigen – als handelnd erlebt – oder bisweilen auch als gelähmt. Das kindliche Ich identifiziert sich zunächst mit Mutter und Vater. Individuation (nach Jung) beinhaltet den Prozess einer Befreiung aus der anfänglichen Abhängigkeit und Verschmelzung mit den Eltern. Durch das Erkennen und Lösen von Identifizierungen („falsches Selbst“) nähert sich der Einzelne dem an, was er immer deutlicher als seinen Wesenskern erkennt, der einmalige und einzigartig ist: sein „wahres Selbst“. So gewinnt er immer mehr Unabhängigkeit und Selbstbestimmung, durch fortlaufende Differenzierung.
Struktur Diese Differenzierung macht es ihm möglich, immer besser zu unterscheiden zwischen Ich – und Nicht-Ich, zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Zu unterscheiden auch zwischen dem was hier und jetzt ist – und dem was vergangen und abgeschlossen ist. So können unterschiedlich ausgeprägten Grenze und Räume entstehen. Diese Grenzen und Räume können als Struktur verstanden werden. Diese vierdimensionale Struktur ist Voraussetzung dafür, dass jemand „auf dem Boden“ und „geerdet“ ist. Dann kann er sein eigenes Selbst wertschätzen und mit sich selber kongruent sein.
Kraft – Aggression Diese zunehmende Struktur gibt dem Einzelnen Orientierung. Je genauer er unterscheiden kann zwischen Eigenem und Fremden, desto entschiedener und sicherer kann er auch seine Kraft gezielt einsetzen, das heisst für sich statt gegen sich, in der Abgrenzung, aber auch im Verfolgen eigener (intrinsischer) Bedürfnisse. Er erlebt sich als handlungsfähig und erfolgreich. Das stärkt sein Selbstwertgefühl und sein Selbstvertrauen. Das ermöglicht ihm, auch andere zu respektieren, ihnen in Augenhöhe zu begegnen und Konflikte zu klären – statt im Modus von Über- /Unterlegenheit. Menschen, die sich noch „im Symbiosemodus“ befinden, die sich nur dann vollständige fühlen, wenn sie mit jemand anderem verschmolzen sind, können Abgrenzung als gewaltsam und beziehungsfeindlich erleben. Eine Ich-Du-Begegnung, die Grundlage einer partnerschaftlichen Beziehung ist jedoch ohne Abgrenzung gar nicht möglich. Wenn ein Mensch NEIN sagen kann, dann hat auch sein JA eine ganz andere Kraft.
2. Die Selbstintegrierende Trauma-Aufstellung (SITA) Wenn ein traumatisierter Klient sich, und mit Hilfe von Repräsentanten seine Selbstanteile und seine Bezugspersonen bzw. ein erlebtes Trauma aufstellt, dann stellt er regelmässig die belastenden Bezugspersonen bzw. das belastende Ereignis näher zu seinem Ich („Fokus“) als seine Selbstanteile. Dadurch wird eine innere unbewusste Dynamik sichtbar und bewusst: Der Klient ist mehr mit dem Trauma – oder seinen Bezugspersonen – verbunden, als mit seinem Selbst. Das kann so verstanden werden: Offenbar ist eine Belastungssituation, die überlebt wurde, im Gedächtnis nicht realitätsgerecht als ein Ereignis gespeichert worden, das vergangen ist, sondern als etwas, was noch präsent ist, und den Klienten mehr bestimmt als sein eigenes Wesen – sein Selbst. Dadurch ist seine Unterscheidung zwischen Ich und Nicht-Ich verunsichert, und damit auch die Fähigkeit, den eigenen Raum und seine Grenzen wahrzunehmen. Er kann das Fremde, Toxische nicht aus seinem eigenen Identitäts-Raum entfernen. Diesen Zusammenhang erörtert auch Thomas Hensel in seinem Buch:
Die „Stressorbasierte Psychotherapie“ Die neuere Gedächtnisforschung beschreibt zwei Phänomene: Erstens: Wenn ein belastendes Ereignis nicht verarbeitet und vergessen werden kann, dann wird es im Gedächtnis „maladaptiv“ – bzw. „verzerrt symbolisiert“ – gespeichert und wird dadurch zum „Stressor“. Darauf reagiert der Organismus mit Kompensationsversuchen: Hypervigilanz (Stress), Verlust der Selbst-Verbindung mit Selbst-Abwertung, das Symbiosemuster mit Erschöpfung, Resignation und Depression und andere dadurch bedingte seelische und körperliche Gesundheitsstörungen. Zweitens: Das Gedächtnis besitzt die Fähigkeit zur Gedächtnis-Rekonsolidierung. Hensel beschreibt, wie diese Fähigkeit durch einen Lösungs-Algorithmus aktiviert werden kann, sodass die maladaptive Speicherung (der Stressor) gelöscht wird. Als Elemente dieses Algorithmus benennt er wie folgt: • Problemaktualisierung • Diskrepanzerfahrung durch Ressourcenaktivierung • Duale Aufmerksamkeit - Dualer Fokus Wobei sich beim letzten Aspekt, dem dualen Fokus, im Rahmen des stressorbasierten Ansatzes drei distinktive Elemente differenzieren lassen: • Disidentifikation ("Du bist nicht dein Symptom") • Distraktion ("Du hast Kontrolle") • Nichttun ("Schau dem Gehirn beim Arbeiten zu") Dieser von Hensel beschriebene Algorithmus zeigt erstaunliche Parallelen zu den Struktur-stärkenden Interventionen der Trauma-Aufstellungen. Allerdings verwendet er selber nicht den Begriff „Struktur“.
2.1. Aufstellung als therapeutisches Instrument In Trauma-Aufstellungen wird immer wieder deutlich, dass nicht die Selbstanteile durch eine belastende Erfahrung „verletzt“ sind, sondern die Struktur und zwar in allen vier Dimensionen. Diese Beeinträchtigung der Struktur durch das Trauma führt dazu, dass das Trauma nicht als etwas Vergangenes abgespeichert werden kann, sondern als Introjekt so fehlgespeichert ist, dass auch im hier und jetzt weiter wirkt, unter anderem dadurch, dass es getriggert werden kann. Dadurch ist die Verbindung mit dem Selbst beeinträchtigt. Entgegen der Überzeugung vieler Betroffener – und mancher Trauma-Therapeuten – erweisen sich die Selbstanteile jedoch als unverlierbar und unzerstörbar. Trauma-Aufstellungen ermöglichen ein Verständnis dieser komplexen Zusammenhänge, sodass durch gezielte Interventionen die Struktur in allen vier Dimensionen gestärkt werden kann. Wichtig: Das was auf der symbolischen Ebene der Aufstellung geschieht, wirkt unmittelbar auf eine innere Ebene ein: Die Struktur wird gestärkt. So wird der Klient in der Lage versetzt, erstens frühere Traumata als etwas Vergangenes abzuspeichern, das hier und heute nicht mehr wirksam ist – und daher auch nicht mehr getriggert werden kann. Die so gestärkte Struktur erlaubt es ihm zweitens, weitere Belastungen angemessen zu verarbeiten (als etwas Vergangenes abzuspeichern). Arbeit an der Struktur verbessert also auch die Resilienz.
Struktur und Autonomie-Diagramm Diese Struktur bildet sich im Autonomie-Fragebogen ab: Je stärker die Traumatisierung, desto geringer ist die Struktur ausgeprägt. Das bedeutet: durch Traumatisierung wird die Struktur beeinträchtigt. Gleichzeitig bedeutet ein Verlust an Struktur auch eine Minderung der Resilienz bzw. eine höhere Vulnerabilität. Ein Teufelskreis. Mein Assistent und Kollege Philipp Kutzelmann ergänzt dazu: Gleichzeitig eignet sich das Modell, das sich im Autonomie-Diagramm wiederfindet, auch gut um Begriffe besser zu erklären, die für das gesamte Stressormodell eine zentrale Rolle haben. Ich denke da besonders an "Verarbeitung" und "maladaptive Erfahrung"
Man kann die Autonomie-Aspekte im Diagramm nämlich als ein sehr konzizes Modell für "Verarbeitung" verstehen. Wer einen Stressor verarbeitet, der hat die Fähigkeit, die eigene Identität klar von dem Stressor-Ereignis zu unterscheiden. Er kann seine gesunde Aggression in einer Art und Weise kanalisieren, dass diese Stressbelastung nicht als ein überwältigendes Ereignis erlebt wird sonder als eine Stärkung der Eigenmächtigkeit, diese Unterscheidung auch stabil zu halten. Dies stärkt die Struktur als Ganzes und damit auch die Verbindung mit dem Eigenen. Der Stressor ist "verarbeitet" worden.
Der Lösungsprozess der Trauma-Aufstellung beinhaltet ganz zentral das Schulen der Unterscheidungsmöglichkeit Ich – Du, Eigenes – Fremdes und Jetzt – Vergangenes. So kann sich die Struktur wieder entwickeln. Dann kann das bisher maladaptiv gespeicherte Geschehen wieder „unverzerrt symbolisiert werden“. Und die Resilienz wird gestärkt. Traumatherapie bedeutet daher Arbeit an der Struktur – die Trauma-Inhalte müssen gar nicht geöffnet werden. Sie können in ihrer Verpackung ungeöffnet aus dem eigenen Raum entfernt und „recycelt“ werden. So wird eine Retraumatisierung verhindert. Dann kann wieder Verbindung entstehen zum bisher verdrängten – jedoch unzerstörbaren – Selbst.
Das soll am Beispiel eines frühen Beziehungstraumas genauer erläutert werden.
3. Beziehungs-Trauma 3.1. Vorbemerkungen Menschen aus sehr traumatisierten Familiensystemen haben in der Regel ein Beziehungstrauma erlitten. Das heißt: Noch bevor sie ein Selbstwertgefühl entwickeln konnten, waren ihre ersten Beziehungen bereits bestimmt durch eine ganze Serie von Traumatisierungen: emotionale Verlassenheit und Abwertung, Schuldzuschreibungen, seelische und körperliche Gewalt, verbunden mit emotionalem Missbrauch und Überforderung. Eltern, die selber nicht Kind sein konnten (durch eigenes Trauma) können nur schwer Eltern sein für ein eigenes Kind. Sie können ihr Kind nicht wahrnehmen und behandeln als ein autonomes Wesen, das seinen Wert und seine Würde in sich selber trägt. Im Gegenteil neigen sie dazu, unbewusst von ihrem Kind zu erwarten, dass es ihnen das ersetzt, was sie selber als Kind vermisst haben. So lernt das Kind, sich mehr nach den Ansichten und Bedürfnissen der Eltern zu orientieren, um zumindest die Illusion von Anerkennung und Wertschätzung zu haben, die für das eigene Überleben wichtig ist. In Beziehungsaufstellungen traumatisierter Klienten zeigt sich regelmässig, dass sie dazu neigen, sich mehr im Raum eines belasteten Elternteils zuständig zu fühlen, als in ihrem eigenen Raum, dass sie dazu neigen, diesem Elternteil die Personen zu ersetzen, die ihnen gefehlt haben: einen emotional oder real abwesenden Elternteil, ein verlorenes Geschwister, oder die Anerkennung und den Halt, den diese selber als Kind nicht erfahren haben.
Die ersten Beziehungserfahrungen eines derart betroffenen Klienten war also geprägt von einem emotionalen Benutztwerden. Er konnte nicht die Erfahrung machen, als der gesehen zu werden, der er eigentlich ist, als ein Kind, mit dem angeborenen Recht, angenommen und wertgeschätzt zu werden und eigene Bedürfnisse, eine eigene Wahrnehmung und Meinung haben zu dürfen – unabhängig von Leistung. Diese Erfahrungen wären für die Entwicklung eines Selbstwertgefühls beim Kind erforderlich. Statt dessen machte er die entgegengesetzte Erfahrung, nur dann Wertschätzung und Zuwendung von den Eltern zu bekommen, wenn er sich mehr nach den (fremden) Bedürfnissen und Überzeugungen der Eltern orientiert – statt nach den eigenen.
3.2. Das Trauma als Introjekt Die Trauma-Aufstellung zeigt regelmässig: Die Belastungssituation und die damaligen Trauma-Gefühle ( Verlassenwerden, Angst, Ohnmacht, hilflose Wut) und der damit verbundene Kontrollverlust konnte nicht als etwas Vergangenes verarbeitet werden und wurde daher verzerrt symbolisiert gespeichert als etwas, das auch hier und heute noch zur Identität des Klienten gehört (Trauma-Introjekt). Das hat Folgen in mehrerer Hinsicht. Einmal kann dies fehlgespeicherte Trauma und der damit verbundene Kontrollverlust reaktiviert („getriggert“) werden durch Situationen oder Aspekte, die der damaligen Belastungssituation vorausgingen. Zum anderen ist durch das Trauma und den erfahrenen Kontrollverlust die Verbindung – und das Vertrauen – zu dem eigenen SELBST tief erschüttert. Das SELBST wird abgelehnt und abgewertet, als wäre es falsch oder gefährlich. Drittens wird die Struktur beeinträchtigt: Mit dem Verlust der Unterscheidung Ich versus Nicht-Ich (bzw. heute versus damals) geht auch die Fähigkeit zur Abgrenzung gegenüber dem Fremden (bzw. gegenüber der Vergangenheit!) verloren. Die gesunde Kraft, die sich in der Abgrenzung konstruktiv entfalten könnte, ist durch diese Verwirrung blockiert und richtet sich gegen das Selbst. Dadurch wird die SELBST-Bestimmung und eine selbst-bestimmte Orientierung und damit die Überlebensfähigkeit wesentlich eingeschränkt. Da Beziehungen in Form einer Ich-Du Begegnung kaum noch möglich sind, bleibt dem Klienten als Alternative nur noch eine Beziehung „im Symbiose-Modus“.
3.3 Der Symbiose-Modus Statt sich mit dem eigenen Selbst zu identifizieren neigt der Klient dazu, sich mit Fremdem (Täter, Trauma) zu identifizieren und sich an andere (Bezugspersonen und deren Bedürfnisse) anzupassen. Statt sich gesund gegenüber dem Fremden abgrenzen zu können, das nicht Ich-kompatibel ist, geht er auf Distanz zu seinem eigenen Selbst, bis hin zu Selbst-Hass und Abspaltung. Statt eigene Überzeugungen bestimmen immer mehr fremde Ansichten das eigene Leben – eine sich selbst verstärkende Dynamik die den Betroffenen in einer Abwärtsspirale lähmt und verwirrt. Ein Teufelskreis. Damit kann auch ein Bewusstsein der Zuständigkeit für das Eigene (Eigenverantwortung) verloren gehen. Als Kompensation macht sich dann ein Klient ungefragt in fremden Räumen nützlich, so als wäre er da zuständig. Mit bestem Gewissen überschreitet er fremde Grenzen. Er übernimmt zum Beispiel für die traumatisierte Mutter den Platz ihres früh gestorbenen Vaters („Parentisierung“) er versucht, ihr den – emotional oder real – nicht anwesenden Partner zu ersetzen. Da er nicht zuständig ist, kann er nichts bewirken. Er fühlt sich unwirksam, verliert aber Kraft und erntet dafür statt Anerkennung und Energieausgleich auch noch Ablehnung und Vorwürfe. Das kann zu Erschöpfung, Enttäuschung und Verbitterung führen und schliesslich (als Gegen-Kompensation) eine Überabgrenzung auslösen: Um nicht weiter ausgenützt zu werden, zieht sich der Klient schliesslich aus Beziehungen emotional immer mehr zurück.
3.4 Bindung an die Bezugspersonen durch das Trauma-Introjekt In einer Trauma-Aufstellung überprüft die Therapeut*in regelmässig, ob der Klient – neben seinem eigenen Beziehungstrauma – zusätzlich auch die beteiligten Bezugspersonen (Täter) und deren Traumata in ihrem eigenen Raum als Introjekte gespeichert hat, so als gehörte das alles zu seinem Zuständigkeitsbereich. Nicht selten hat er auch die eigenen und übernommenen Trauma-Gefühle gespeichert: Trauer, Schmerz, Verlassenheit, Ohnmacht und Wut – so als gehörten sie zu seiner Identität. Dieses – wie ich es bezeichne – „Konglomerat“ von Introjekten wird irrtümlich im eigenen Raum gespeichert und blockiert dadurch die Verbindung (Kongruenz) mit dem eigenen Wesen, dem eigenen Selbst. Das Setting der Aufstellung macht es dem Klienten möglich, diese Zusammenhänge verstandesmässig zu erkennen, sodass er bereit ist, diese Introjekte als nicht kompatibel mit seinem Selbst aus seinem Raum zu entfernen. Nicht selten spürt er dabei jedoch gleichzeitig einen inneren Widerstand, ein starkes Gefühl von Verbot oder von Verrat, oder als würde er dadurch die Zugehörigkeit zu seiner Familie verlieren. Diese Diskrepanz zwischen Verstand und Gefühl finde ich häufig in Zusammenhang mit Trauma.
Der Klient kann sich bewusst werden: Offensichtlich ermöglicht das eigene Trauma eine illusionäre Verbindung mit der – ebenfalls traumatisierten – Bezugsperson. Die Mitglieder traumatisierter Familien können oft durch verinnerlichte Trauma -Introjekte nicht mit ihrem Selbst verbunden sein, das heisst, sie sind nicht mit sich selber kongruent. Dadurch ist eine unbeschwerte emotionale Verbindung zu ihnen bisweilen nicht möglich. Als Kompensation (Überlebensstrategie) dient dann der symbiotische Beziehungsmodus: die Verbindung zu einer traumatisierten Bezugsperson über das eigene Leid oder durch das symbiotische Teilen des Leids (Übernehmen des fremden Traumas). Diese symbiotische Bindung zu den Familienangehörigen eines traumatisierten Systems durch ein eigenes Trauma, oder durch die Übernahme eines fremden Traumas scheint bisweilen ein Grund für das unbewusste „Festhalten“ am Trauma zu sein. Zum Beispiel kann das Loslassen des eigenen Missbrauchs-Traumas als verboten, ja als Verrat gegenüber der geliebten Grossmutter verstanden werden, die auf der Flucht ebenfalls sexuelle Gewalt erlebt hatte.
Das ist ein Aspekt eines illusionären Gewinns, welcher das Festhalten am Trauma erklärt, und muss daher bei der Lösungsstrategie (dem „Lösungs-Algorithmus“) berücksichtigt werden. Doch es gibt weitere Aspekte eines illusionären Gewinns.
3.5. Beziehungstrauma, Folgestörungen Stellt ein Klient ein frühes Beziehungstrauma auf, dann zeigt sich in der Regel – wie bereits erwähnt – dass er mehr mit diesem Trauma verbunden ist als mit seinem „souveränen“ erwachsenen Selbst. Und weiter: dass er zusammen mit seinem eigenen Trauma (Verlassenheit und Überforderung) auch die an seinem Trauma beteiligten Bezugspersonen – meist beide Eltern – in seinem Raum hat und dazu noch deren eigene Traumen. Dies Aufstellungsbild spiegelt die Auswirkungen seines frühen Beziehungstraumas wieder Seine traumatisierten Eltern konnten ihn und seine kindlichen Bedürfnisse nicht wahrnehmen. Statt dessen neigten sie dazu, ihm die Verantwortung für ihr Schicksal und ihr Leid zuzuschieben – ohne dass er sich dagegen wehren konnte. Auch deren Traumata, die sie ihm immer wieder erzählt hatten – vielleicht als Entschuldigung für ihr eigenes Verhalten – sind ihm vertraut, so als seien seine eigenen Traumata, oder als sei er auch für diese Traumata zuständig. In Ermangelung eines gesunden Selbstwertes verinnerlichte er diese Überforderungen. Das heisst er entwickelte subtile Grössenfantasien, So entstand ein aufgeblähtes Grössen-Selbst, verbunden mit einer Tendenz zu Perfektionismus und Kontrolle. Die Vorstellung, es sei seine Aufgabe, ja seine einzige Existenzberechtigung, für die Eltern verantwortlich zu sein, sie zu „retten“. Die unvermeidbare schmerzliche Erfahrung, dass das gar nicht gelingen konnte, verbuchte er als sein persönliches Versagen. Das verstärkte zusätzlich sein Gefühl, unfähig und unwert zu sein.
...und das narzisstische Dilemma In einer Trauma-Aufstellung zeigt sich diese Dynamik dadurch, dass sich ein Klient besser fühlt, wenn er sich auf sein Trauma (Schemel) stellt. Diese höhere Ebene (dritte Dimension) gibt ihm die Illusion, drüber zu stehen, den anderen überlegen zu sein. einen besseren Überblick zu haben, die Dinge besser in den Griff bekommen zu können. Das ist, wie erwähnt, oft verbunden mit einer Tendenz zu Perfektionismus und zu Kontrolle. Die „höhere Ebene“ vermittelt ihm ein subtiles Gefühl von Überlegenheit (narzisstisches Grössen-Selbst). Gleichzeitig erscheinen ihm aber die anderen unterlegen. Er kann ihnen nicht „auf Augenhöhe“ begegnen. Das macht ihn einsam. Aus dieser Perspektive erscheint ihm aber auch sein Selbst noch schwächer und unfähiger als zuvor. Diese Dynamik hat eine Tendenz sich selber zu verstärken: je schlechter das Selbstwertgefühl, desto mehr klammert sich der Klient an seine illusionären Grössenfantasien – wie an einen rettenden Strohhalm. Dies ist ein sich selbst verstärkender Prozess, vergleichbar mit einer Falle oder mit einem Knoten, der sich immer mehr zuzieht. Um diese Grössenfantasien nicht zu verlieren, hält der Klient das Konglomerat aus eigenem Trauma und den Traumata der Bezugspersonen fest als Introjekt. So ist seine Verbindung zu seinem freien und souveränen Selbst blockiert. Um mit seinem Selbst verbunden sein zu können, müsste er seine illusionären Grössenfantasien loslassen. Aber wie kann er seine Grössenfantasien loslassen, die ihm bisher immerhin die Illusion gegeben haben, eine Aufgabe, einen Lebens-Sinn und eine Existenzberechtigung zu haben? Zumal ihm die Alternative, sein eigenes Selbst unbekannt ist, von der Familie nicht wertgeschätzt wurde und ihm zusätzlich noch falsch, unfähig und unwert erscheint? Dies narzisstische Dilemma kann der Klient selber meist nicht lösen. So entsteht eine innere Spaltung verbunden mit einem Anhaften am Trauma.
4. Lösungsstrategien Das entspricht dem von der Gedächtnisforschung beschriebenen Phänomen einer maladaptiven Trauma-Speicherung.
Alle die hier genannten Aspekte ergänzen und verstärken sich gegenseitig, Das Lösen nur eines dieser Aspekte hat keine anhaltende Wirkung. Die noch ungelösten anderen Aspekte können einen Rückfall bewirken. Um zu einer anhaltenden Lösung zu kommen – und Rückfälle zu vermeiden – müssen alle diese Aspekte in einem zeitlichen Zusammenhang gelöst werden: • Das Erkennen und Entfernen der Ich-fremden toxisch wirkenden Elemente, • der Abschied von den subtilen Überlegenheitsgefühlen, um • wieder auf den Boden zu kommen und • die Achtung für das eigene Selbst zu gewinnen, und • sich mit ihm verbinden zu können. Die so gewonnene Kongruenz mit dem eigenen Selbst macht es möglich, auch anderen auf Augenhöhe zu begegnen, konfliktfähig – aber auch fähig zur Kooperation. Als „Tiger unter den anderen Tigern der Tiger-Liga“. Diese Trauma-Lösung ist jedoch nur möglich durch eine bestimmte Haltung der Therapeut*in und durch eine sehr differenzierten, verdichteten Lösungs-Choreografie – analog dem Algorithmus der „Stressorbasierten Psychotherapie“.
4.1. Exkurs: Die Haltung der Therapeut*in Die nicht nur unter Systemtherapeuten verbreitete Einstellung, „der Klient ist der Experte“ gilt auch für die Traumatherapie, jedoch mit einer entscheidenden Modifizierung. Auch im Setting der SSI bleibt der Klient zu jedem Zeitpunkt der "Experte". Seine Expertise bezieht sich aber auf die Stimmigkeit des eigenen Empfindens und nicht auf die Gestaltung des Lösungsprozesses. Die Rücksicht auf diese Expertise erfordert von der Therapeutin, dem Klienten nicht zu etwas zu drängen, was er nicht versteht oder was er in der eigenen Erfahrung nicht nachvollziehen kann. Die Erwartung aber, er solle selber den Lösungsprozess bestimmen, kann einen Klienten, dessen Kindheit bereits geprägt war durch Überforderung durch emotionales oder reales Verlassenwerden, erneut überfordern und kann daher sogar retraumatisierend wirken. (Aus diesem Grund verzichtet auch die Psychoanalytische Therapie bei der Behandlung dieser früh gestörten Klienten schon lange auf ihr früher eingehaltenes „Abstinenzgebot“.) Ein traumatisierter – und daher extrem selbstunsicherer – Klient kann aus seiner verfahrenen Situation nur dann herausfinden, wenn die Therapeutin ihm gegenüber als Expertin auftritt. Das heisst, dass sie ihm ein Störungsmodell anbietet, welches dem Klienten seine Situation verständlich macht, und dass sie ihm die erforderlichen Lösungsschritte vorschlägt, ohne dabei sein bereits gemindertes Selbstwert-Gefühl noch weiter zu beschädigen. Dann kann der Klient der Therapeutin mehr vertrauen, als seinen bisherigen Überlebens-Strategien.
4. 2. Der Lösungs-Algorithmus der SITA Wie bereits erwähnt, umfasst das Lösungs-Modell die Annahme eines SELBST, das unverlierbar und unzerstörbar zur „Grundausstattung“ des Klienten dazugehört – auch wenn er es bisher noch gar nicht kennen gelernt hat! – sowie das Recht auf Unterscheidung zwischen Ich und Nicht-Ich und damit das Recht auf Abgrenzung. Nur so kann ein eigener Raum entstehen, in dem die Verbindung mit dem eigenen SELBST – die Kongruenz mit dem eigenen Wesen – möglich ist.
5. Fallbeispiel (Aufstellung mit Figuren) 5.1. Aufstellungsbild Der Klient – nennen wir ihn Peter – leidet unter einer chronischen depressiven Erschöpfung. Als Kind war er emotional sehr verlassen. Die Mutter, alleinerziehend, war durch den frühen Tod des Vaters und durch Vertreibung aus Schlesien selber sehr traumatisiert und musste zur Arbeit. Die wichtigste Bezugsperson für Peter war die Grossmutter, die Mutter seiner Mutter, die ihn liebte und stolz auf ihn war. Allerdings war auch sie selber durch Flucht und durch den Verlust des Mannes traumatisiert. Peter stellt sich und seine beiden Selbstanteile – mit Figuren als Stellvertreter – und dazu sein frühes Beziehungstrauma auf, symbolisiert durch einen Würfel. Dabei folgt er einem inneren Gefühl. Er stellt das frühe Beziehungstrauma in die Mitte und sich und seine Selbstanteile in einem Kreis um das Trauma herum. Das Bild zeigt: das Trauma ist als Introjekt gespeichert, so als sei es Teil seiner Identität, und nimmt das Zentrum des Raumes ein. Das zeigt: seine Struktur ist beeinträchtigt: das Trauma steht ihm näher als sein eigenes Selbst.
5.2. Erkennen des Trauma-Introjektes und erstes Entfernen aus dem eigenen Raum Die Therapeutin fordert Peter dazu auf, selber zu überprüfen, ob dies schmerzliche Ereignis, das schon lange vorbei ist und das er überlebt hat, noch hier und heute in seinen „Identitätsraum“ gehört – und dadurch auch heute noch weiter wirkt. Oder ob er sich vorstellen kann, dass es einen Peter gibt, der „vollständig ist auch ohne das Trauma“, und der daher alle die Traumafolgestörungen nicht haben muss? Dadurch gerät Peter in einen inneren Konflikt. Gefühlsmässig hängt er zwar am Trauma – warum, das ist ihm noch nicht bewusst – aber der Wunsch, sich von den Folgestörungen zu befreien ist ebenfalls stark. Und sein Verstand bestärkt ihn darin und so ist er bereit, dem Vorschlag der Therapeutin zu folgen. Er entfernt das Trauma-Introjekt aus der Mitte seines Raumes und deutet durch einen Bleistift eine Grenze an zwischen einem eigenen Raum – und dem Trauma. Diese Desidentifizierung zum Trauma unterstützt er durch die vorgeschlagenen Sätze: „ich bin der Peter von heute, und du bist das Trauma von damals. Ich bin vollständig auch ohne dich und du liegst 30 Jahre zurück!“ Das fühlst sich zunächst völlig neu und ungewohnt an, daher wiederholt er es noch zweimal.
5.3. Trauma und angekoppelte weitere Introjekte Als nächstes stellt die Therapeutin den Trauma-Würfel wieder in den Raum des Klienten und überprüft mit ihm, ob er zusammen mit dem Trauma eventuell auch die beteiligten Bezugspersonen (die „Täter“) als Introjekte verinnerlicht hat, und zusätzlich auch noch deren eigene Traumata, indem sie Repräsentanten (Figuren und Würfel) für diese Elemente in den Raum des Klienten stellt. Zunächst stellt er die Mutter dazu – deren Abwesenheit ja zu seinem Trauma gehörte. Dann kommt Mutters Verlassenheits- und Überforderungs-Trauma dazu – Ursache und Erklärung für sein eigenes Trauma. Und Peter erinnert sich an seine Grossmutter. Sie war seine wichtigste Bezugsperson. Sie starb, als er 8 Jahre war – der Schmerz ist noch heute spürbar. Und auch sie hatte ein frühes Verlusttrauma: als sie 8 Jahre war, verlor sie ihre Heimat. Sie musste mit der Mutter aus Schlesien flüchten. Aus ihren Erzählungen ist ihm ihr Verlusttrauma so vertraut, als wäre es sein eigenes. Und das eigene Trauma – im gleichen Alter wie seine Großmutter – verband ihn irgendwie mit der Großmutter und mit der Mutter – so als hätten sie durch diese ähnlichen Traumata etwas Gemeinsames. Dies Phänomen, dass das eigene – oder ein übernommenes –Trauma eine illusionäre Verbindung mit den traumatisierten Bezugspersonen ermöglicht, finde ich sehr häufig. Ich bezeichne das – etwas salopp – als „Trauma-App“.
5.4. Überprüfen der illusionärer Grössenfantasien Die Therapeutin fragt Peter, wie sich diese Konglomerat für ihn anfühlt. Peter spürt eine Ambivalenz: einerseits sehr vertraut, gleichzeitig aber noch unangenehmer als vorher, er zeigt Tendenzen, auf Abstand zu gehen. Die Therapeutin fordert ihn auf, die ihn repräsentierende Figur auf den Würfel zu stellen, der sein eigenes Trauma repräsentiert. Und es zeigt sich eine erstaunliche emotionale Reaktion: Peter – eben noch bedrückt – strahlt! Erhöht auf seinem eigenen Trauma zu stehen gibt ihm ein Gefühl, bedeutsam zu sein, überlegen zu sein. So als könnte er nur aus dieser erhöhten Position heraus alles im Blick haben, alles unter Kontrolle haben, und als wäre das – in dieser belasteten Familie – seine eigentliche Aufgabe, quasi der Sinn seiner Existenz. Aus dieser Position blickt er herab auf die anderen – aber auch auf seine eigenen Selbstanteile (Selbst-Abwertung). Zwar ist diese Illusion von Überlegenheit meist verbunden mit demütigenden Erfahrungen, dass er nicht wirklich etwas bewirken kann. Das mindert seinen Selbstwert noch mehr. Aber wie deutlich wird, klammert er sich an diese illusionären Grössenfantasien, die alleine – angesichts von Verlassenheit und fehlendem Selbstwertgefühl – ihm das Gefühl von Sinn und Existenzberechtigug geben. Daher und kann er auch die verinnerlichten Eltern und deren Traumata ebenfalls nicht loslassen. Das ist das narzisstische Dilemma, einerseits ein illusionäres Grössen-Selbst, andrerseits ein reales Unwertgefühl. Dies kann als eine massive Verwerfung innerhalb der dritten Struktur-Dimension (Über/Unterlegenheit) verstanden werden. Das verhindert eine Verbindung zwischen Peter und seinem Selbst. Wie lässt sich diese „strukturelle Verwerfung“ im Setting der Aufstellung lösen?
5.5. Trauma als Droge – Entzug durch Erdung Die Grössenfantasien von Überlegenheit und Bedeutsamkeit wirken wie eine Droge, die für das Überleben angesichts einer realen Entwertung unentbehrlich scheint. Die Illusion, alles kontrollieren zu müssen, erklärt die Hypervigilanz, den ständigen Stress, der zu Energieverlust und Erschöpfung führt. Das Festhalten an dieser Droge blockiert auch die Erfahrung einer Selbst-Wirksamkeit. Denn es verhindert den Zugang zu dem eigenen SELBST, das auch ohne Trauma – und ohne die Grössenfantasien – seinen Wert und seine Würde besitzt. So dass es sich dem Schicksal anvertrauen kann, was immer es auch bringt. Sobald Peter erkennt, dass er sich in dieser Falle befindet, ist er bereit, die von der Therapeutin vorgeschlagenen Lösungsschritte zu vollziehen. Er stellt die Figur, dieihn vertritt, aus der erhöhten Position herunter „auf den Boden“. Dabei wird er sich – zum ersten Mal! – bewusst, dass er das Recht auf einen eigenen Raum besitzt. Dieser Raum war offensichtlich verstellt durch ich-fremde und ich-unverträgliche Elemente. Peter wird sich dessen bewusst, dass er das Recht hat und die Kraft, diese ich-fremden Inrojekte aus seinem Raum zu entfernen. Und er erkennt, dass er handlungsfähig ist: Peter entfernt – bei allem Respekt – die (Repräsentanten der) Eltern und deren Traumata aus seinem Raum. Um sich von seinen Grössenfantasien – und der damit verbundenen Überzeugung, alles kontrollieren zu müssen – zu verabschieden, ist ein besonderes Ritual erforderlich, ich nenne es die „starke Medizin“: Peter legt die ihn vertretende Figur flach auf den Tisch und stellt sich vor, er selbst liegt ausgestreckt mit dem Bauch auf den Boden, die Arme nach vorne, Handflächen nach oben. Statt das Schicksal kontrollieren zu wollen, vertraut er sich seinem Schicksal an. Dieser Verzicht auf Kontrolle ist für ihn zunächst ungewohnt, macht ihm vielleicht Angst, hilflos vom Schicksal überrollt zu werden. Aber es ermöglicht auch eine ganz neue reale und authentische Erfahrung: Peter spürt körperlich, dass es da etwas gibt, was ihn trägt. Therapeut*in: „Das ist der Boden. Das ist die Erde, deren Kind Sie ja sind. Die Sie hervorgebracht hat, die Sie trägt und ernährt – bedingungslos! Diese Übung ermöglicht – vielleicht zum ersten Mal – die Erfahrung von Gelassenheit und Vertrauen.
5.6. Selbst-Verbindung durch Selbst-Achtung Auch nach der Entfernung des Trauma-Introjektes ist Peters Verbindung zu seinem Selbst noch durch zwei weitere Aspekte blockiert: durch die von den Eltern erlebte Abwertung und durch den mit dem Trauma verbundenen Kontrollverlust. Die Erfahrung, hilflos diesem Trauma ausgeliefert zu sein, mindert das Selbstwertgefühl und das Vertrauen in das eigene Selbst. Hier ist es Aufgabe der Therapeutin quasi als Mediatorin in einem geleiteten Lösungsdialog die durch die Traumaerfahrung gestörte Beziehung zwischen Peter und seinen Selbstanteilen zu klären. Dann kann sich die Peter wieder mit seinem Selbst identifizieren – statt wie bisher mit dem eigenen Trauma und den Traumata seiner Eltern. Wenn die ersten Beziehungen bereits traumatisch geprägt waren, durch Erfahrungen von Nicht-Beachtetwerden Abwerten, Benutzt-werden oder durch Ablehnung, Demütigungen und Schuldzuweisungen, dann identifiziert sich ein Klient - um in dieser Familie überleben zu können – mehr oder weniger mit diesen „negativen Projektionen“. Er übernimmt deren Sichtweise, und sieht auch als Erwachsener sich selber, sein erwachsenes und sein kindliches Selbst durch diese „Brille“ der Eltern. 5.7.Annäherung an das erwachsene Selbst Die Therapeutin stellt Peter sein erwachsenes Selbst (eS) vor, als „der Peter, der sich ohne Schuldgefühle abgrenzen kann, der seinen Wert und seine Würde in sich hat, unabhängig von Leistung, alleine dadurch das er d a i s t . „War dieser Peter in ihrer Familie erwünscht?“ Peter schüttelt den Kopf. „Dann haben sie vielleicht – um in dieser Familie überleben zu können – die Sichtweise dieser Familie (Projektionen) übernommen und konnten ihrerseits ihr eS nicht wahrnehmen und wertschätzen?“ Um das zu überprüfen legt Peter – mit einer über die Augen wischenden Handbewegung – symbolisch die Brille der Eltern ab und schaut mit seinen eigenen Augen auf sein Selbst. Es ist vielleicht noch fremd, aber es gibt an ihm nichts auszusetzen! Jetzt ist es Aufgabe der Therapeutin, stelllvertretend für sein Selbst, Peter in einem „inneren Dialog“ zu erklären: „Ich bin dein Selbst. Das Trauma deiner Kindheit konnte ich nicht verhindern. Aber es ist schon lange vorbei, du hast es überlebt. Ich bin nur für dich da.“ Peter ist dadurch freudig überrascht. Gleichzeitig taucht jedoch der Vorwurf auf, vom Selbst alleine gelassen worden zu sein. Hier erinnert die Therapeutin Peter daran, dass er selber so sehr mit dem Trauma und den Eltern beschäftigt war, dass er sein Selbst nicht wahrnehmen und achten konnte, und fordert ihn auf, das seinem Selbst mitzuteilen. Das fühlt sich für Peter stimmig an. Die Vorwürfe gegen das Selbst schwinden. Stattdessen spürt er jetzt ein Bedauern, so als hätte er damit etwas versäumt. Therapeutin: Ihr Selbst ist ihnen nie böse. Im Gegenteil, wenn es irgendwo bedingungslose Liebe für Sie gibt, dann bei ihrem Selbst. Und noch dazu gratis! Sie müssen dafür nichts leisten, sie müssen dafür noch nicht einmal brav sein! Aber um wieder Verbindung mit diesem Selbst zu bekommen, müssen sie die Achtung nachholen – indem sie sich tief vor ihrem Selbst verneigen, drei Atemzüge lang!“ Nach dieser achtungsvollen Verneigung vor seinem eigenen Selbst kann Peter Achtung und Sehnsucht spüren zu seinem Selbst. Spontan verbindet er die beiden Figuren die ihn und sein Selbst vertreten miteinander und kann spüren, wie sich die Verschmelzung mit seinem Selbst anfühlt. Er fühlt sich eins mit sich selbst, zum ersten Mal kongruent mit sich und strahlt. Da dies Gefühl neu ist – oder bekannt, aber instabil – ist anschliessend noch die Abrenzung gegenüber den Traumaintrojekten erforderlich.
5.8. Abgrenzen der ich-fremden Introjekte Um diese Verbindung zu seinem Selbst zu stärken, schlägt die Therapeutin Peter vor, die – bisher eingeschränkte – Unterscheidungsfähigkeit zwischen Ich und Nicht-Ich durch ein Abgrenzungs-Ritual zu üben. Die Therapeut*in erklärt Peter, wie er selber diese Abgrenzung vollziehen kann: In die eine Hand nimmt er die Figur, die sein Ich („Fokus“) vertritt, und die zeigt, wie sie ihren Raum schützt. In die andere Hand nimmt er nacheinander die verschiedenen Ich-fremden Elemente, die er auf sein Ich zu bewegt, sodass das Ich sie mit einem kräftigen „stopp“ abgrenzen kann. Er bewegt also gleichzeitig beide Elemente. Für viele fühlt sich das Abgrenzen zunächst ungewohnt oder verboten an, so als wäre das egoistisch oder verletzend. (Unbewusstes Abgrenzungsverbot). Hypothese: Durch die Trauma-Erfahrung ist nicht nur die Unterscheidung Ich versus Nicht-Ich erschwert, sondern auch – als unmittelbare Konsequenz? – die Fähigkeit, die eigene Kraft konstruktiv in die richtige Richtung einzusetzen, das heißt für sich in der Abgrenzung gegenüber dem Ich-fremden – und nicht destruktiv gegen sich. Im Abgrenzungsritual übt der Klient also nicht nur die Unterscheidungsfähigkeit, sondern auch die Fähigkeit, seine Kraft für sich – statt gegen sich – einzusetzen. Um das animalische Kraftpotential Peters zu mobilisieren, fordert die Therapeutin ihn auf, sein Territorium zu schützen, wie ein Tiger, mit einem lauten Tigerschrei! Als Peter in dieser Weise die traumabedingte Blockade seiner gesunden Kraft löst, richtet sich seine Haltung auf, das Gesicht entspannt sich, er strahlt und lacht! Und er hat dadurch ihren eigenen Raum frei gemacht – für sein Selbst! Zweite Annäherung an das Selbst Nach diesem Abgrenzungsritual überprüft Peter noch einmal die Verbindung zwischen den beiden Figuren, die sein Ich und sein erwachsenes Selbst vertreten, indem er sie zusammenstellt und einen Finger über beide legt. Er spürt, dass sie jetzt viel besser verbunden sind als vorher. Gleichzeitig merkt er eine zunehmende innere Ruhe und Gelassenheit.
5.9. „Gegenabgrenzung “ (I) Mit diesem Begriff bezeichnen wir eine spezielle Intervention der Trauma-Aufstellung. Wenn ein Klient sich mit einem Trauma identifiziert, dann genügt die Abgrenzung gegenüber diesem Introjekt alleine noch nicht, um diese Identifikation zu lösen. Es bleibt noch ein „Sog“ zu dem bisherigen Introjekt. Um das bewusst zu machen und zu bearbeiten, hat sich die Gegenabgrenzung bewährt. Die Therapeut*in fordert Peter auf, mit einer Hand seine Ich-Figur in Richtung auf die bisher verinnerlichten Elemente zu bewegen und gleichzeitig mit der anderen Hand eine weitere Figur zu nehmen – den „Trainer“. Dieser vertritt das „Realitätsprinzip“ und stoppt die Ich-Figur jedesmal kradtvoll mit unterschiedlichen Sätzen. Bei einem Trauma: „Das bist du nicht! Das hat heute nichts mehr mit dir zu tun. Das macht dich nur kaputt!“ Bei einer Person: „Da bist du nicht zuständig! Das geht dich nichts an!“ Die Wirkung ist sehr eindrucksvoll. Peter zuckt zunächst zusammen, so als würde er aus einer Trance erwachen. Und er verlangt nach einer Wiederholung – so stark ist offenbar die „Bindung“ an das Trauma-Introjekt! Peter spürt, wie bei jedem mal sich etwas Schweres in seinem Körper löst und von ihm abfällt.
5.10. Gegenabgrenzung (II) „Fit für die Tiger-Liga“ Klienten, die durch das emotionale Benutzt-werden in ihren prägenden (traumatischen) Beziehungen „gelernt“ haben, dass sie nur dann wertgeschätzt werden, wenn sie etwas leisten, wenn sie nützlich sind, erleben ein – auch freundliches – „Nein“ des Gegenübers (Gegenabgrenzung) oft als Abweisung, als Abwertung, so als hätten sie selber keinen Wert. Um diese Kränkung zu vermeiden, meiden sie Menschen, die sich gut abgrenzen können – weil das immer wieder so schmerzhaft ist. Sie fühlen sich besser mit den Menschen, die sich nicht gut abgrenzen können, die traumatisiert sind – und bedürftig. Allerdings geraten sie dabei immer wieder in Abhängigkeitsbeziehungen. Um diesen Aspekt in der Aufstellung zu bearbeiten hat sich eine andere Form der Gegenabgrenzung bewährt: das Training fit für die „Tiger-Liga“! Die Therapeutin erklärt Peter: „in der Abgrenzungsübung haben sie gezeigt, dass sie ein „Tiger“ sind. Dann gehören sie in die „Tiger-Liga“. Und für Tiger gehört es zu den Spielregeln, sich gegenseitig abzugrenzen. Wenn sie aber als Kind gelernt haben, dass sie nur dadurch wertvoll sind, dass sie gebraucht werden, und wenn dann das Gegenüber sie stoppt – dann fühlt sich das bisweilen an wie Abweisung, wie nicht mehr gebraucht werden und daher nichts wert zu sein?“ Peter nickt nachdenklich. „Dann könnte es sein, dass sie den Menschen lieber aus dem Weg gehen, die sich sehr gut abgrenzen können – denn das tut ihnen dann weh. Vielleicht geht es ihnen dann besser mit Menschen, die sich nicht gut abgrenzen können, die bedürftig sind – weil sie traumatisiert sind? Aber da kommen sie leicht in Abhängigkeitsbeziehugen?“ Peter stimmt wieder zu – und wird noch nachdenklicher. „An sich gehören sie als Tiger in die „Tiger-Liga“ Dann dürfen die anderen sich auch abgrenzen – ohne dass sie gekränkt sind. Das sind die Spielregeln der Tiger-Liga. Wollen sie, dass wir das jetzt trainieren!? Dann führen sie noch einmal mit einer Hand ihre Ich-Figur „in bester Absicht“ in Richtung auf den Trainer. Und mit der Trainer-Figur in der anderen Hand stoppen sie kraftvoll ihre Ich-Figur. Die Therapeut*in begleitet diesen Vorgang mit den Sätzen: „Ich bin auch ein Tiger! Ich respektiere, dass du dich abgrenzt. Und wenn auch du meine Grenze respektierst, dann können wir uns in Augenhöhe begegnen!“ Peter zuckt überrascht zusammen, so als würde er aus einer Trance erwachen. Zunächst vielleicht gekränkt, aber das wandelt sich meist schnell in ein freudiges Erstaunen. Um die Wirkung zu verstärken, fordert die Therapeutin ihn auf, die Übung zu wiederholen. Dazu sagt sie in der Rolle des Trainers: „ICH weiß, dass ich dir das zumuten kann, denn ICH weiß, dass du ein Tiger bist und das aushältst! Aber es kann sein, dass DU das vergessen hast – oder wollten sie dich vielleicht zum Kuschelkätzchen umerziehen? Anscheinend musst DU dich einmal entscheiden, in welche Liga du gehörst: Kuschelkätzchen – oder Tiger?“ Peter antwortet begeistert: natürlich Tiger! Es ist immer wieder sehr eindrucksvoll, wie durch diese einfache Intervention die schlummernde Vitalität eines Klienten geweckt werden kann.
5.11. Gegenabgrenzung (III) Erschöpfung und Burnout Eine weitere Folge des frühen emotionalen Benutzt-werdens ist die Tendenz, sich auch ungefragt in fremden Räumen nützlich zu machen. Das kostet viel Energie, wird häufig – da unerbeten – nicht wertgeschätzt, sodass es keinen Ausgleich gibt. So geraten die Betroffenen immer mehr ins Defizit: Erschöpfung, Depression oder Burnout sind die Folge. Die Lösung besteht darin, dass die Betroffenen selber die Grenzen der eigenen Zuständigkeit genau erkennen und respektieren lernen! Denn die anderen zeigen ihnen da keine Grenze! Die einen können es nicht, da sie traumatisiert und bedürftig sind. Die anderen wollen es gar nicht, ihnen ist es doch ganz recht wenn sich jemand ungefragt für sie nützlich macht. Dazu schlägt die Therapeutin Peter eine besondere Übung vor: „Führen sie mit der einen Hand ihre Ich-Figur in bester Absicht in den Raum des Gegenüber und stoppen sie wieder mit der Trainerfigur in der anderen Hand ihre Ich-Figur. Ich frage sie – stellvertretende für den Trainer: bist du hier überhaupt zuständig? Und statt gekränkt zu sein, könnten sie im Gegenteil sehr dankbar sein und antworten: “Danke für den Hinweis, anscheinend habe ich mich da gerade vertan!“ Peter ist einverstanden. Aber durch das gestoppt werden ist er ganz überrascht, und vergisst die Antwort. Die Therapeutin fordert Peter auf, seine Ich-Figur wieder mit der Figur seines erwachsenen Selbst zu verbinden – das seinen Wert in sich selber hat, ohne gebraucht zu werden. Peter kann die Verbindung wieder spüren. Die Therapeutin erklärt ihm: „immer wenn Sie ungefragt sich in fremden Räumen nützlich machen, verlieren Sie die Verbindung mit diesem Selbst, das seinen Wert in sich hat. Und wenn Sie mit diesem Selbst nicht mehr verbunden sind, dann müssen Sie sich ja in fremden Räumen nützlich machen, um von anderen die Wertschätzung zu bekommen, die Sie selber sich nicht geben können. Das ist wie eine Falle, Sie finden nicht mehr zurück. Sie werden abhängig, unfrei. Wie ein Leibeigener arbeiten sie für fremde Interessen zu einem kargen Lohn! Dabei haben sie die Option, frei und unabhängig zu sein! Je mehr Sie Verbindung haben mit ihrem Selbst – das seinen Wert in sich spürt – umso weniger haben Sie auch nur das geringste Interesse daran, sich ungefragt in fremden Räumen nützlich zu machen.“
5.12. Gegenabgrenzung (IV) gegenüber der Vergangenheit Traumatisierte Klienten haben oft ein gestörtes „Zeitgitter“, sie erleben das Vergangene (und das betrifft nicht nur das Trauma!) nicht als vorbei, sondern als immer noch präsent. Daher neigen sie dazu, sich immer wieder mit Themen der Vergangenheit zu beschäftigen, mit Verletzungen und mit eigenen Fehlern und mit eigenem (realen oder eingebildeten)Versagen. Sie wissen zwar, dass dies Grübeln nichts mehr bewirken kann, viel Kraft kostet und sie daran hindert, im hier und jetzt zu sein. Umsonst. Es ist wie ein Zwang. Auch Peter kennt das von sich. Und er ist bereit, die von der Therapeutin vorgeschlagene Abgrenzung zur Vergangenheit zu vollziehen. „Nehmen sie in eine Hand ihre Ich-Figur und führen sie diese, wie gewohnt zurück in die Vergangenheit und mit der anderen Hand nehmen sie die Trainer-Figur und stoppen sie kraftvoll ihre Ich-Figur. Stellvertretend für den Trainer sage ich dann zu ihnen: Stopp!! Es gibt kein ZURÜCK!! was Vorbei ist ist Vorbei – und kommt auch nie mehr wieder! Was gestorben ist wird nie wieder lebendig!“ Peter braucht diese Gegenabgrenzung dreimal. Neben Erleichterung spürt er auch einen Schmerz – es fühlt sich an wie Abschied. „Ja! Auch der Abschied von vertrautem alten Leid kann schmerzhaft sein. Aber es ist ein gesunder Schmerz! Und wenn sie durch diesen Schmerz hindurch gehen – öffnet sich eine Türe für das HIER UND JETZT!“
5.13.Annäherung an das kindliche Selbst So verbunden mit seinem erwachsenen Selbst wendet sich Peter seinem kindlichen Selbst (kiS) zu, seinem „inneren Kind“, das ihm bisher entweder unbekannt oder lästig war. Auch diese gestörte Beziehung kann durch einen angeleiteten Dialog moderiert werden, indem schrittweise wieder Achtung und Wertschätzung und schliesslich auch Verantwortung für das kindliche Selbst geweckt wird. Wenn Peter negative Projektionen der Eltern auf den kleinen Peter übernommen hat, kann er symbolisch diese „Brille“ der Eltern ablegen und selber überprüfen, ob es am kleinen Peter etwas auszusetzen gibt. Meist ist das nicht der Fall. Die Therapeutin fordert ihn auf, dem kleinen Peter zu sagen: „Du bist goldrichtig! Schade dass diese belastete (verwirrte, kranke) Familie sich über deine Lebendigkeit nicht freuen konnte – und ich habe mich davon anstecken lassen!“ Nach jeder Intervention legt Peter einen Finger auf die Figur seines kindlichen Selbst, und spürt, wie es dem danach geht. Th.: „war der kleine Peter damals erwünscht, bzw. wurde er standesgemäss begrüsst?“ Peter schüttelt den Kopf und kann jetzt das selber nachholen: „Wie schön dass du da bist! Wie schön, dass du so vital und sensibel bist, wie du bist! Und wie schön dass du ein Kerl bist – und noch dazu ein ganz spezieller!“ Th.: Der kleine Peter hat in dieser Familie Schmerzliches erfahren, aber er hat es überlebt! Das könnten Sie würdigen - statt immer nur die Traumata aufzuzählen! Peter: „Danke, dass du das alles überlebt hast! Danke dass du nicht gestorben bist! Danke dass du niemanden umgebracht hast! Danke, dass du dabei nicht (ganz) verrückt geworden bist! Unter diesen Umständen war das nicht einfach! Das haben wir beide gut hinbekommen!“ Th.: „Du konntest damals den kleinen Peter nicht schützen – aber heute ist das anders! Wie wäre es für dich – und für den kleinen Peter – wenn du zu ihm sagtest: Heute lass ich nicht mehr zu, dass du verletzt oder überfordert wirst, das du missbraucht und abgewertet wirst! Das ist vorbei!“ Peter spricht diese Sätze nach – und der kleine Peter fühlt sich dabei besser beschützt.
An dieser Stelle kann die Therapeutin - an Stelle des kindlichen Selbst - zu Peter sagen: "Ich habe alles ohne Schaden überlebt! Und ich möchte, dass du das weißt!" (Der kleine Peter möchte nicht bemitleidet werden! Er möchte endlich mit auf die Tiger-Party!)
Th.: „Vielleicht bist du so mit Beruf und evtl. Familie beschäftigt, dass der kleine Peter auch heute wieder zu kurz kommt? Dann könntest du ihm zusichern: Für dich bin nur noch ich zuständig – und nur du bist für mich die Nummer eins! Vor allen Anderen!“ Damit der kleine Peter ihm das auch glaubt, nimmt Peter die Figur seines kindlichen Selbst an sein Herz. Nun kann Peter spüren, wie es ihm geht, wenn der kleine Peter endlich einen sicheren Platz findet, an dem er gesehen und gemocht und geschützt wird, so wie er ist. Danach verbindet er die Figuren von Ich, erwachsenem und kindlichen Selbst dicht zusammen und spürt nach, wie es sich anfühlt, wenn sie eins werden. Peter fühlt sich vollständig und geerdet, wenn er mit beiden Selbstanteilen verbunden ist.
5.14. Den Segen von den Vorfahren nehmen – statt deren Leid
Ein Grundmotiv der Generationen übergreifenden Traumatisierung ist die – fälschlich als Loyalität bezeichnete – symbiotische Verbindung mit den belasteten Vorfahren durch ein Übernehmen von deren Leid. So als könne man nur so mit ihnen verbunden sein. Daher fühlt sich das Loslassen des fremden – wie des eigenen -Leids bisweilen an wie Verlassen und Verlassen werden oder wie Verrat. Durch dies Festhalten werden aber – nach einer verbreiteten Vorstellung – die Verstorbenen daran gehindert, ihren Frieden zu finden und „ins Licht“ zu gehen. Und der Klient bleibt gebunden an vergangenes Leiden und ist nicht frei, in sein eigenes unbeschwertes Leben zu gehen. „Das wäre eine lose-lose-Situation! Um daraus eine win-win-Situation zu machen, müssten sie die Großmutter loslassen.“ Das Loslassen des „übernommenen“ Leids kann besser gelingen, wenn der Klient statt der Verbindung durch Leid eine andere Qualität von Verbindung zu den Vorfahren spüren kann: durch deren Liebe und durch deren Segen. Daher gehört es zum Lösungs-Algorithmus dazu, dass der Klient – wenn es sich für ihn stimmig anfühlt – einen verstorbenen Vorfahren um seinen Segen bittet. Peter erinnert sich an die geliebte und so früh verlorene Grossmutter – und auch an ihr Trauma, die verlorene Heimat. Und er ist bereit, jetzt nach fünfzig Jahren sein eigenes Trauma und die Grossmutter mit ihrem Trauma loszulassen, „damit sie ihren Frieden finden kann – im Licht!“ Ein tiefer, kurzer Schmerz überkommt ihn – der Abschiedsschmerz, endlich, nach fünfzig Jahren! Therapeutin: „Könnten sie sich vorstellen, dass die Grossmutter ihnen gerne ihren Segen geben würde?“ Peter nickt, dankbar. Die Therapeutin spricht – stellvertretend für die Großmutter: „Peter, ich gebe dir gerne meinen Segen. Lebe dein eigenes Leben! Lebe deine Würde und deine Kraft! Lebe deine Liebe und deine Lebendigkeit. Du bist frei!“ Danach führt Peter die Figur der Großmutter symbolisch ins Licht. Th.: „Das Schwere und Schmerzliche, das gar nicht zu ihnen gehört, lassen sie hinter sich. Aber das, was sie eigentlich sind, nehmen sie mit. Drehen sie sich um und führen sie die Figuren durch eine symbolische Türe hindurch, ins HIER UND JETZT Und die Türe zur Vergangenheit machen sie zu. Und dann spüren sie nach, wie es ihnen jetzt geht!“
6. Abschliessende Bemerkungen Die bisherigen Ausführungen zeigen: Das hier vorgestellte Konzept einer „Arbeit an der Struktur“ ist gut geeignet, die komplexen Dynamiken abzubilden, zu untersuchen und gezielt therapeutisch zu beeinflussen, die durch eine frühe Beziehungsstörung verursacht werden und die hier als narzisstisches Dilemma beschrieben wird. Das Konzept lässt sich auch für die Klärung von privaten und beruflichen Beziehungskonflikten einsetzen. München 26.4.2020