LEBEN – STATT ÜBERLEBEN NEUE ASPEKTE DER SELBST-INTEGRIERENDEN TRAUMA-AUFSTELLUNGEN
STÖRUNGSVERSTÄNDNIS
Frühes Beziehungs-Trauma In der täglichen Arbeit mit früh traumatisierten Klient*innen erkennen wir beide – Philipp Kutzelmann und ich – immer deutlicher: Die Realität der frühen prägenden Beziehungen einer Klient*in ist bestimmt durch traumatisierte Eltern, die ihr Kind emotional im Stich lassen, es überfordern und bisweilen auch seelisch oder körperlich verletzen. Da war es für die Klient*in unmöglich, ein „gesundes“ Selbstwertgefühl zu entwickeln. Aber sie hat überlebt!
Grundbedürfnis nach Liebe Offenbar gibt es ein Grundbedürfnis des Kindes nach der bedingungslosen Liebe der Eltern. Wenn diese nicht in der Lage sind, das Einzigartige ihres Kindes wertzuschätzen, dann entwickelt dieses bisweilen bizarre Anpassungs-Strategien, um dennoch von den Eltern wahrgenommen und wertgeschätzt zu werden. Und es ist bereit, dafür sich bis zur Unkenntlichkeit zu verbiegen. Das ist trotz allem: Eine kreative Leistung!
Beziehungstrauma in der Figuren-Aufstellung In der Aufstellung mit Figuren können die eigenen Selbstanteile („Ich“, Kindliches und wahres Selbst) eigenes Trauma, Bezugspersonen und deren Traumata durch Klötzchen symbolisiert werden. Das macht es der Klient*in möglich, die Aspekte der eigenen Überlebensstrategie sichtbar zu machen und zu verstehen. Wenn sie den illusorischen Gewinn und die damit verbundene Nachteile erkennt, dann kann sie sich leichter davon lösen, ohne sich dafür abwerten zu müssen.
Erstaunlicherweise gibt es da ein typisches Muster. Die Klient*in stellt das Symbol für ihr „Ich“ auf das Symbol ihres Traumas. Sie macht das eigene Trauma zur Basis ihres Selbstbildes! Das kommt ihr bekannt vor: Um das reale Leid nicht an sich heranlassen zu müssen(?), geht sie buchstäblich auf eine „höhere Ebene“ (rationale oder spirituelle Ebene, virtuelle Welten). Doch auch der Platz auf den Traumen der Eltern ist ihr „bekannt“. So als sei sie auch für deren Probleme verantwortlich – spontan aus „Liebe, oder durch Auftrag. Dazu gehören Tendenzen zu Kontrolle und Perfektionismus. Diese illusionäre Selbst-Überhöhung gibt der Klient*in – die in der Realität emotionale Verlassenheit und Überforderung erlebt hat – die Illusion, eine Existenzberechtigung oder eine Aufgabe zu haben. Gleichzeitig erlebt sie jedoch, dass diese Aufgaben unerfüllbar sind und wertet sich deshalb selber ab. Durch diese Selbst-Abwertung blockiert sie selber die einzige „gesunde“ Alternative: den Zugang zum wahren Selbst.
Der Überlebensmodus Daher bleiben sie im „Überlebensmodus“ stecken. Das Überlebens-Selbst wird zum „falschen Selbst“. Diese Verbindung von Selbst-Überschätzung und Selbst-Abwertung führt zu einem brüchigen Selbstwertgefühl. Das bestimmt das Selbstbild, das bestimmt private und berufliche Beziehungen. Das führt zu weiteren traumatischen Erlebnissen. Denn das Festhalten an dieser Überlebensstrategie kann dazu führen, dass die Klient*in unbewusst genau die traumatische Beziehungskonstellation der Kindheit wieder entstehen lässt, für die sie ihre (genau angepasste!) Strategie entwickelt hatte.
LÖSUNGSVERSTÄNDNIS
„Wahres" Selbst und Überlebens-Selbst der Klient*in Wenn die Klient*in im Aufstellungsprozess erkennt, dass sie unbewusst mit ihrem Überlebens-Selbst auch dessen „Basis“ festhält: eigenes Trauma und die Eltern mit deren Traumata in ihrem eigenen Raum, dann wird ihr bewusst, dass sie sich bisher mehr an diesem Konglomerat orientiert hat, statt an ihrem eigenen Selbst. Sie erkennt, dass dies Konglomerat mit ihrem Wesen nicht vereinbar ist und dass sie das Recht und die Kraft hat, alle diese wesensfremden Introjekte aus ihrem „Identitätsraum“ zu entfernen. Das betrifft das eigene Trauma, das eigene Überlebens-Selbst, aber auch die Eltern und deren Traumen. Allerdings wird hier häufig ein gefühlsmässiger innerer Widerstand deutlich. Das Abgrenzen und Entfernen der Introjekte fühlt sich bisweilen an, • als wäre es „verboten“ – als wäre es lieblos und verletzend, oder • als würde die Klient*in dadurch Verbindung und Zugehörigkeit zu der Familie verlieren. Hier wird ein Phänomen deutlich, das uns bei traumatisierten Familienkollektiven immer wieder begegnet: Die Bindung zwischen den Mitgliedern einer Familie entsteht durch das Teilen des Leids. Das Leid wird zur Voraussetzung für die Zugehörigkeit, salopp gesagt: es wird zur Clubkarte. Diese unbewusste Dynamik erklärt, warum Traumatherapie solange erfolglos bleiben muss, solange diese Dynamik nicht erkannt und gelöst ist! Doch es gibt eine Lösung!
„Wahres“ und „Überlebens-Selbst“ der traumatisierten Eltern
Auch Eltern können durch ein nicht verarbeitetes Trauma von ihrem Selbst getrennt sein und sich dadurch im Überlebensmodus befinden. Daher unterscheiden wir auch bei den traumatisierten Eltern zwischen deren „Wesenskern“ oder „wahrem Selbst“ und einem Trauma-bedingten Überlebens-Selbst. Das wahre Selbst der Eltern ist der Teil, der sich natürlich über so ein wunderbares Kind freut und ihm bedingungslose Liebe schenken möchte. Wenn ein Elternteil nicht, oder nur selten mit seinem wahren Selbst verbunden ist, dann erlebt das Kind nicht oder nur selten diese wahre bedingungslose Liebe, nach der es sich so sehnt. Es begegnet dann dem Überlebens-Selbst der Eltern, und das ist häufig mit seelischen oder körperlichen Verletzungen verbunden. Diese Differenzierung zwischen „wahrem“ und „falschen“ (Überlebens-Selbst) ermöglicht der erwachsenen Klient*in von heute Lösungsschritte, die dem Kind damals nicht möglich waren.
Wenn sie bisher den Eltern für diese Verletzungen böse war – und sich dafür selber schuldig fühlte und ablehnte – dann kann sie jetzt erkennen: Sie kann ohne Schuldgefühle(!) das „falsche Selbst“ der Eltern ablehnen. Und wenn sie erkennt, dass sie irrtümlich das falsche Selbst der Eltern – als Teil des Konglomerates – verinnerlicht hatte zur Orientierung, dann kann sie auch dies falsche Selbst abgrenzen und aus ihrem Identitätsraum entfernen. Dabei wird dann häufig eine – lange unterdrückte und bisher gegen sich selbst gerichtete – Wut spürbar, die eigentlich gegen die Ursache der Verletzungen gerichtet werden könnte: gegen das „falsche Selbst“ des Elternteils. Klient*innen erleben das immer wieder als sehr befreiend, wenn sie diese Abgrenzung begleiten mit deftigen Schimpfwörtern wie: „Du dumme Sau“. Da sich das nicht gegen den wahren Elternteil richtet – sonder gegen dessen Trauma-bedingtes „falsches Selbst“ – muss sie dabei keine Schuldgefühle haben. Wenn auf diese Weise alles Toxische und mit dem eigenen Wesen nicht vereinbare „vom Tisch gefegt“ ist, dann ist nur noch das Symbol für das wahre Selbst der Eltern am Tisch. Dieser Lösungsschritt ist aus zwei Gründen wichtig: • Wenn es der Klient*in gelingt, die Ablehnung, die sie bisher irrtümlich gegen sich selber gerichtet hat (schlechtes Selbstwertgefühl) an die richtige Adresse zu richten: gegen das falsche Selbst des Elternteils, von dem dies Verletzungen ausgingen, dann kann sie wieder die Achtung bekommen, sowohl für den Elternteil als auch für sich selbst. • Dann ist – zumindest in der Imagination – eine liebevolle Begegnung möglich zwischen dem Wesenskern des Elternteils – und dem eigenen, sozusagen „von Herz zu Herz“.
LEBEN: Selbstwert und das Nehmen der wahren Liebe.
Jetzt ist für die Klient*in der Weg frei, die bedingungslose Liebe z.B. der Mutter zu spüren, die sie sich immer ersehnt hat und die sie selten oder nie erleben konnte. Dazu legt sie das Symbol für das wahre Selbst der Mutter an ihr Herz, und spürt, ob sie ihr Herz öffnen kann für diese (imaginierte) Liebe einer „nicht traumatisierten Mutter, die sich über diese wunderbare Tochter freut und ihr gerne ihre reine, bedingungslose Liebe schenkt – einfach, weil sie da ist“. Häufig spürt die Klient*in, dass sie ihr Herz nicht öffnen kann – aus Sorge wieder verletzt zu werden. Philipp Kutzelmann machte die wertvolle Erfahrung, dass hier das Symbol eines Filters hilfreich sein kann. Wenn die Klient*in einen symbolischen „Filter“ – z.B. ein zusammengefaltetes Handtuch – dazwischen legt, dann kann sie ihr Herz für Mutters Liebe besser öffnen.
Das Erleben dieser wahren Liebe einer Mutter – vielleicht zum ersten Mal! – ist für die Betroffenen tief berührend. Und das kann ihr Selbstbild grundlegend verändern. Denn diese Erfahrung „weckt“ ihr Bewusstsein, wert zu sein, geliebt zu werden – alleine dadurch dass sie da ist. Unabhängig von Leistung. Sie spürt jetzt einen anderen, einen inneren Selbstwert. Jetzt erst kann sie spüren, dass sie die Liebe anderer nehmen kann, bis sie satt ist.
Und sie erkennt: ohne dieses Selbstwert-Gefühl hatte sie bisher Zweifel – ob es der andere ehrlich meint, ob er sie meint, ob sie es wert ist, geliebt zu werden. „Sie verhungerte – am gedeckten Tisch“!
Auch für mich war es überraschend und beglückend, diese zentrale Dynamik so klar erkennen und beschreiben zu können. Das Nehmen-können der bedingungslosen Liebe setzt Verbindung mit dem eigenen wahren Selbst voraus, das weiss, es ist wert geliebt zu werden. Dieses wahre Selbst gehört zwar „zu unserer Grundausstattung dazu“. Es ist ja nach unserem Verständnis ein Geschenk der Natur, und es verbindet uns mit dem grösseren Ganzen, dessen Teil wir sind.
Das Potential des Selbst umfasst also • ein Bewusstsein von Selbstwert und Würde, • die Fähigkeit, bedingungslose Liebe zu nehmen – und zu geben, • die eigene Kraft gezielt zu verwenden, um Wesensfremdes im eigenen Raum zu erkennen und wirkungsvoll aus dem eigenen Raum zu entfernen. Aber gerade in der Arbeit mit frühen Beziehungstraumata sehen wir, dass dieses Potential erst „geweckt“, oder gestartet werden muss, und zwar, wenn man Glück hat, durch die Erfahrung der bedingungslosen Liebe eines Elternteils. Das ist eine sich selbst stabilisierende Dynamik. So wird auch zwischen den Mitgliedern einer Familie eine Verbindung durch Liebe möglich, über die Generationen-Grenzen hinweg.
ÜBERLEBEN in traumatisierten Familien. Wir beobachten bei unseren Klient*innen täglich: Durch die nicht verarbeiteten Traumata ist bei ihnen nicht nur die Verbindung zu einem eigenen wahren Selbst beeinträchtigt, sondern bereits das Bewusstsein, dass es überhaupt ein wahres Selbst gibt. Da ihr wahres Selbst („intrinsischer Selbstwert“) durch die traumatisierten Eltern nicht „geweckt werden konnte“, orientieren sich die Betroffenen nach ihrem falschen Überlebens-Selbst, das ihnen in einer widrigen Umgebung half zu überleben. Das heisst, ihr Selbstwert wird alleine durch Leistung bestimmt wird, genauer dadurch, dass sie für andere nützlich sind („extrinsisch“). Das ist meist verbunden mit illusorischen Grössenfantasien, für die Belange der anderen verantwortlich zu sein. Auch Beziehungen erhalten erst dadurch ihren Wert, dass sie Nutzen bringen. Daher bestimmt Benutzen – und sich benutzen lassen – die Beziehung zwischen den Beziehungspartnern. Das wird irrtümlich als „Liebe“ bezeichnet und vom anderen eingefordert.
Der Wunsch nach einer bedingungslosen Liebe muss in diesem Zusammenhang als Illusion abgelehnt und als egoistisch abgewertet werden. Das wird auch deutlich an dem zentralen Aspekt der Selbst-Fürsorge
Selbst-Fürsorge und wahre Liebe – im Lebens-Modus Selbst-Fürsorge bedeutet, dass eine Person die eigenen Bedürfnisse wahrnimmt, sich für sie verantwortlich fühlt, und gut für sich sorgt – gegebenenfalls auch indem sie selber Hilfe organisiert. Selbstfürsorge ist daher Voraussetzung für Autonomie und Selbstbestimmung. Und sie ist Voraussetzung für eine erwachsene partnerschaftliche Beziehung, in der Beziehung und Bindung nicht durch gegenseitiges Benutzen bestimmt wird. Die Partner können sich selber zeigen – und den anderen wahrnehmen so wie sie sind. So können beide beim Anderen dessen „Selbst“ wahrnehmen, das was ihn einzigartig und einmalig macht. So kann gegenseitige Anziehung entstehen, eine gegenseitige Zuwendung, die nicht bestimmt ist durch Interessen und Absichten – sondern bedingungslos. Das ist die wahre Liebe.
Im Überlebensmodus sind – funktional-systemisch gesehen – die beiden Aspekte der Selbstfürsorge • die Fähigkeit zur Fürsorge und • die Wahrnehmung von Bedürftigkeit nicht auf einander bezogen im Sinne einer Selbst-Fürsorge. Die Selbst-Fürsorge liegt brach. Bei funktional-systemischer Betrachtungsweise wird deutlich, dass diese beiden Aspekte isoliert, verformt und missbräuchlich instrumentalisiert werden, in Form einer • unangemessenen Fürsorge für den Anderen einerseits und • ausgeprägten unbeachteten eigene Bedürftigkeit. Der eine Aspekt löst automatisch beim Partner den anderen Aspekt aus, und das gegenseitig. Die Betroffenen halten das oft für Liebe und sie fordern diese Liebe vom anderen ein. Aber diese „Liebe“ macht nicht frei, im Gegenteil. So entsteht Abhängigkeit und Ko-Abhängigkeit. So entsteht Bindung durch Abhängigkeit. Auch diese Dynamik hat eine sich selbst verstärkende Wirkung. So wird sie zur Falle. Auch wenn die Betroffenen das erkennen – alleine finden sie aus dieser Falle nur selten wieder heraus.
Der Lösungsprozess Durch die Arbeit mit Früh Traumatisierten haben wir entdeckt: Auch wenn den Betroffenen das Potential des eigenen „wahren Selbst“ nicht durch die wahre Liebe der eigenen Eltern geweckt werden konnte – es ist unverlierbar und unzerstörbar. Eine Therapeut*in, die gelernt hat, die eigenen Trauma-bedingten Überlebensstrategien zu erkennen, die kann auch das wahre Selbst einer Klient*in erkennen – statt sie mit ihren Problemen und Traumata zu identifizieren. Wenn sie der Klient*in dies abgewertete und vergessene wahre Selbst wieder nahe bringt, dann erkennt diese, dass sie sich bisher irrtümlich an wesensfremden Elementen orientiert hat: dem Trauma-Konglomerat. Auch wenn es sich ungewohnt, oder verboten anfühlt, kann sie die wesensfremden Introjekte aus ihrem Raum entfernen und schrittweise wieder Verbindung spüren zu ihrem wahren Selbst. Nach der Erfahrung des eigenen Wertes und der eigenen Kraft kann die Klient*in erkennen, wie sehr ihr bedürftige Seite – das verlassene und überforderte „innere Kind“ – auch von ihr selber abgewertet und vernachlässigt wurde. In einem sehr berührenden Prozess kann sie Achtung und Wertschätzung für ihre kindliche Seite wieder gewinnen. Sie kann sich – vielleicht zum ersten mal – verantwortlich fühlen für ihre Bedürfnisse, und wie zum Ausgleich dafür spüren, wie ihr bisher leistungsorientiertes Leben bereichert wird durch die Lebendigkeit und Fantasie ihres „kindlichen Selbst“. Und Beziehungen können wieder bestimmt werden durch eine Ich-Du Begegnung. durch gegenseitige Anziehung entsteht eine Bindung, die beiden Raum lässt um zu wachsen. Das ist die wahre absichtslose Liebe. Das ist ein eklatanter Unterschied zu der oben beschriebenen Verbindung durch das symbiotische Teilen des Leids.
Ich bin immer wieder tief berührt, wenn ich erlebe, dass mit dieser schlichten, aber Struktur bildenden Vorgehensweise („Choreografie“) tiefe Metamorphosen möglich sind. Innerhalb von 90 Minuten.
Ernte und Dank Vor 40 Jahren hatte ich als junger Psychiater die Vision, eine Therapiemethode zu finden, die zugleich einfach und rasch wirksam ist. Ich versuchte die Probleme meiner Klient*innen zu verstehen, vertraute meiner Wahrnehmung und Intuition, bildete daraus Hypothesen, die ich dann überprüfte. So entstand über 40 Jahre dies Konzept. Dies Konzept kann auch von den Betroffenen selber angewendet werden, in Form von „Schattensegeln“ oder nach Anleitungen zum Do it Yourself. So wird auch das Machtgefälle zwischen Therapeut und Klient überwunden. Ich durfte 80 Jahre alt werden, um diese Entwicklung noch erleben zu können! Das ist für mich wie ein Geschenk. Nicht nur für mich, sondern für alle! Ihr alle könnt es nehmen, selber anwenden, und weitergeben. Dadurch werdet ih Teil des unvermeidbaren Wandlungsprozesses hin zu einer zukunftsfähigen, da artgerechten Gesellschaft.