Petra hat eine lebende Zwillingsschwester. Sie hat bereits umfangreiche therapeutische Erfahrungen gemacht. Gerade hat sie das dramatische Ende einer sehr verschmelzenden, aber auch verletzenden Partnerbeziehung hinter sich. Das Autonomie-Diagramm zeigt deutliche Einschränkungen bei A Abgrenzung und C Integration der gesunden Aggression, und erhöhte werte bei E Übergriffigkeit und F Auto-Aggression.
In einer Aufstellung suchen wir nach einem „Blockierenden Element“, das Petra daran gehindert hat, mit ihrem wahren Selbst verbunden zu sein, der „wahren Petra“, die diese Erfahrungen besser hätte verarbeiten können. Oder die sich erst gar nicht darauf eingelassen hätte.
Aufstellungsbild: Das Symbol für das BE steht nahe bei ihrem Fokus, wahres und kindlich-vitales Selbst sind entfernt. Es fällt ihr nicht leicht, das Symbol aus ihrem Raum zu stellen. Wenn sie ihren Finger auf diesen roten Würfel legt, spürt sie ganz frühen Trennungs-Schmerz, Einsamkeit und Trauer.
Diese Gefühle finden wir oft bei dem frühen Verlust eines Zwillings, etwa in der 8.-12. Schwangerschaftswoche, von dem Mutter und Klientin meist gar nichts wissen. Petra hat jedoch eine lebende Zwillingsschwester, mit der sie während der gesamten Schwangerschaft zwangsläufig eine sehr enge Verbindung hatte. Hypothese: Könnte es sein, dass es sein, dass es auch bei einem lebenden Zwilling ein frühes Trennungstrauma gibt? Sodass Petra – gefühlsmässig – immer noch in dieser engen, „verschmelzendem“ Verbindung mit dieser Schwester „stecken geblieben“ ist? Dass die – unvermeidbare Trennung nach der Geburt – für sie immer noch so schmerzhaft ist, dass sie das gar nicht „wahrhaben“ möchte?
Wie üblich erfolgt nun die Rekonstruktion der damaligen Überlebensstrategie, eine Kombination aus Selbst-Verleugnung und magisch-grandiosen Strategien: das Trauma-Konglomerat, unbewusst entstanden durch den „Anpassungsreflex“ an das Trauma. Fokus und KiS werden aus dem Traumakonglomerat herausgelöst und ersetzt durch Symbole für die Überlebensstrategien Selbstverleugnung und magisch-grandiose Tendenzen. Der Rest des Konglomerates ist inkompatibel mit dem wahren Selbst und kommt hinter eine Sichtblende. Die Annäherung an das eigene wahre Selbst erweist sich für ihr Gefühl als schwierig – obwohl Petra ihr Selbst und seine Bedeutung kognitiv bekannt ist. Die üblichen Widerstände werden überprüft und auf der symbolischen Ebene gelöst: • Starke Kontrolltendenzen („der Kontrolletti“), welche die Annäherung an etwas Unbekanntes blockieren. • Ein „Verklebtsein“ mit dem Zwilling und dem gemeinsamen Trennungstrauma. • Die Überlebensstrategie Selbst-Verleugnung – um sich zu schützen, oder um für andere wertvoll sein zu können. • Die verbreitete Einstellung Betroffener, sich selber die Schuld für ihre Probleme zu geben – statt diese Probleme als Folgen des Traumas und der damaligen unbewussten Anpassungs-Reflexe zu verstehen. Die Petra spürt immer noch eine Blockierung beim Versuch einer Verbindung zu ihrem wahren Selbst. Hypothese: Ist ihre Bindung an die Zwillingsschwester so stark, dass sie ihm den zentralen Platz in ihrer Mitte freihält, der eigentlich ihrem Selbst zusteht? Das überprüfen wir so: Petra hält das Symbol für die Zwillingsschwester an ihr Herz. Kann es sein dass sie immer noch diese verschmelzende Verbindung zu ihr spürt, die sie in den ersten 8 Monaten ihres Lebens im Uterus hatte? Petra ist sehr berührt, glücklich und traurig zugleich. Ihr wird bewusst, dass sie diese verschmelzende Beziehung immer noch sucht, so als hätte sie sich noch nicht von ihrer Zwillingsschwester verabschiedet. So als könne sie ohne sie – oder einen Ersatz – nicht vollständig sein. Diese Sehnsucht hatte offensichtlich bisher ihre Selbst-Verbindung blockiert. Petra sind auch vorbewusste Fantasien vertraut, als ob sie durch die Selbst-Verbindung den Zwilling verraten, oder für immer verlieren könnte.
Lösungsprozess In einem Dialog mit dem Zwillings-Symbol kann sie zunächst würdigen, dass sie 8 Monate lang eine so besondere Beziehung mit ihr haben durfte. Danach fällt es ihr leichter, sich von ihr zu verabschieden, sodass jeder von ihnen sich alleine vollständig fühlen kann, indem beide sich mit ihrem wahren selbst verbindet. Gefühlsmässig fällt ihr das immer noch sehr schwer, so als müsse sie auf etwas Vertrautes verzichten, und sich auf etwas Unbekanntes einlassen. Aber ihr Verstand bestärkt sie darin, dass das so richtig ist.
Nachdem Petra in dieser Weise bewusst sich von ihrer Schwester verabschiedet hat, spürt sie eine ganz andere selbstverständlichere Verbindung zu ihrem wahren Selbst. So verbunden mit ihrem Selbst kann sie sich jetzt auch ihrem kindlichen Selbst zuwenden. Sie hat es lange unterdrückt, jetzt kommt es schnell wieder zu seiner alten Kraft und Lebendigkeit zurück.
Kommentar Wir wissen, dass der frühe Verlust eines Zwillings ein Symbiosemuster bedingen kann. Und dass die Lösung durch die Bearbeitung dieses Verlusttraumas möglich ist. Auch lebende Zwillinge sind häufig noch sehr symbiotisch verbunden. Bisher war meine Vermutung, dass sie durch die Verbindung im Mutterleib einen „Zwillingsmodus“ entwickelt hatten: sie fühlten sich vollständig nur mit einem anderen Wesen, das ihnen gleich oder zumindest sehr ähnlich war.
Durch die Aufstellung mit Petra erkannte ich, dass auch lebende Zwillinge ein frühes Trennungstrauma haben. Mit ähnlicher Dynamik und ähnlichen Lösungsstrategien. Mit einem entscheidenden Unterschied: der verstorbene Zwilling muss entlassen werden ins „Licht“, der lebende Zwilling kann entlassen werden „in sein eigenes selbstbestimmtes Leben“. Da Petras Zwillingsschwester lebt ist auch weiter Kontakt mit ihr möglich. Nach diesem Trennungs-Prozess fühlen sich beide vollständig ohne den anderen, und können sich daher auf neue Weise begegnen. Sie müssen nicht sofort wieder in einen „Zwillingsmodus“ geraten. Ist das nicht eine bizarre Parallele zu „siamesischen Zwillingen“?! Die ja auch getrennt werden müssen damit sie sich begegnen können.