In unseren Ausbildungskursen berichten uns Teilnehmer von ihren unbefriedigenden Erfahrungen mit anderen Trauma-Therapiekonzepten. Das veranlasst mich zu den folgenden Überlegungen.
1. „Die Amygdala vergisst nichts?“ Traumatisierte Personen sind regelmässig mit dem früheren Trauma noch so identifiziert („verklebt“), als wäre es auch heute noch ein Teil ihrer Identität. Das ist die eigentliche Ursache ihrer Probleme. Viele anerkannte Trauma-Therapie-Konzepte gehen daher davon aus, dass das gespeicherte Trauma nicht mehr gelöscht werden kann. Sie vermuten, dass es in den Mandelkernen (Amygdala) gespeichert wurde – getreu der Maxime: „Die Amygdala vergisst nichts!“ Um dennoch das Leid der Betroffenen zu lindern, wird ihnen empfohlen, das Trauma zu „integrieren“, und den damaligen „Tätern“ zu verzeihen. Oder die Betroffenen werden angehalten, Kompensationsstrategien zu trainieren. Diese Vorgehensweise wird – etwas irreführend – als „Extinctions-Lernen“ bezeichnet (lateinisch Extinction bedeutet Löschen). Da jedoch das ursprüngliche Trauma – und das dadurch bedingte „Programm“ – nicht wirklich gelöscht wurde, kann diese Strategie den mentalen Stress der Betroffenen sogar noch erhöhen. 2. Rekonsolidierung Bereits seit einigen Jahrzehnten hat die Gedächtnisforschung die Fähigkeit unseres Gehirns erkannt, bis ins hohe Alter gespeicherte Traumen zu löschen: Rekonsolidierung. Allerdings muss dieser Selbstheilungsprozess, wenn er nicht spontan gelingt, erst aktiviert werden.
Thomas Hensel, psychologischer Traumatherapeut, arbeitet selber nach dem Konzept der EMDR. Basierend auf dem Phänomen der Rekonsolidierung hat er ein neues Traumatherapie-Konzept beschrieben: die „Stressor-basierte Psychotherapie“. Er beschreibt die Schritte (den „Algorithmus“), die erforderlich sind, um die Rekonsolidierung zu aktivieren: 1. Problemaktualisierung: Symbolische Repräsentierung der „belastenden Erfahrung“ (des Traumas) 2. Diskrepanzerfahrung durch Ressourcenaktivierung. Als Kontrast wird eine „Ressource“ aktiviert, eine Erfahrung der eigenen Stärke. 3. Duale Aufmerksamkeit: der duale Fokus oder „bifokale Blick“ nimmt gleichzeitig beide Erfahrungen in den Blick. So sind dem Klienten weitere Schritte möglich, Hensel bezeichnet sie als: Disidentifikation („Du bist nicht dein Problem“), die Einsicht, die Belastung und das resultierende Problem ist nicht „Ich-synton“, das heisst sie sind inkompatibel mit der erwachsenen Person von heute. Distraktion („Du hast Kontrolle“). Es entsteht eine Distanz zwischen dem Ich des Betroffenen heute und den Problemen, die durch die damaligen Belastungen bedingt waren. Das nimmt dem Problem seine Wirkung. Nicht-Tun, („sieh dem Gehirn bei der Arbeit zu“). Hier ist eine „nicht wertende Grundhaltung“ gefordert, die interessiert und mitfühlend die inneren Klärungs-Prozesse beobachtet, ohne sie manipulieren zu wollen.
3. Symbiose in Systemaufstellungen In meiner psychiatrischen Praxis entwickelte ich in den letzten 20 Jahren das Konzept der „Systemischen Selbst-Integration“ (SSI). Das Setting der Systemaufstellung ermöglicht den Betroffenen die Einsicht, dass alle ihre aktuellen Probleme bedingt sind durch das symbiotische Beziehungsmuster, ohne dass ihnen das bewusst ist. Das Symbiosemuster beinhaltet ein unbewusstes Verbot, die eigenen Grenzen wahrzunehmen und zu schützen, aber auch fremde Grenzen wahrzunehmen und zu respektieren. Ohne diese „Struktur“ jedoch bekommen die Betroffenen kein Bewusstsein für einen eigenen Raum. Ohne eigenen Raum ist aber eine sichere Verbindung mit dem eigenen Wesenskern, dem eigenen Selbst gar nicht möglich. Daher können die Betroffenen nicht sicher unterscheiden zwischen Ich und DU, zwischen eigener und fremder Zuständigkeit. Diese Verwirrung blockiert ihr Selbstwertgefühl. Es blockiert auch ihre Orientierung. Aus Angst, ihre Kraft destruktiv einzusetzen, ist ihre konstruktive Kraft blockiert. Da sie ja immer noch da ist, wird diese Kraft destruktiv und richtet sich gegen sich selbst, oder gegen andere Unschuldige.
3.1. Das Trauma-Introjekt . . . Diese symbiotische Verwirrung ist sehr verbreitet, und betrifft – in einer stärkeren Intensivität - psychiatrischen Patienten. Dies Muster erscheint in unterschiedlicher Ausprägung und in einer verwirrenden Fülle von Variationen. - Diese verwirrende Buntheit hat möglicherweise das Erkennen dieses relativ einfachen Musters erschwert? Das Symbiosemuster kann verursacht werden durch frühe Erfahrungen von Verlust einer geliebten Person oder durch Gewalt. Die wirkende Dynamik wird durch eine Aufstellung mit Symbolen sofort erkennbar: Die Betroffenen stellen die geliebte verlorene Person – oder die belastende Trauma-Erfahrungen samt dem Täter von damals – auch heute noch in die Mitte ihres Raumes. Sodass ihre Verbindung zu ihrem Wesenskern, zu ihrem wahren Selbst dadurch blockiert ist. Diese „Introjektion“ einer geliebten Person – oder eines Traumas – war also die Ursache für ihre Probleme. (Diese Begriffe hat bereits der Freud-Schüler Ferenczy für die von ihm 1910 und 1930 beschriebenen Phänomene verwendet.)
. . . ist reversibel! Das Setting der Systemaufstellung ermöglicht mir ein experimentelles Vorgehen. Wenn der Betroffenen, auf dieser symbolischen Ebene dieses Element als Ich-fremd erkennt, dann wird ihm die Ursache seines aktuellen Problems bewusst. Er spürt – mehr oder weniger – einen Impuls, dieses Introjekt gezielt abzugrenzen, das heisst aus dem eigenen Raum zu entfernen. Er bemerkt dabei innere Hemmungen: erlernte unbewusste Verbote der Kindheit. Wenn er spürt, dass sein Gefühl verwirrt ist, dann empfehle ich ihm, sich an seinem heutigen Verstand zu orientieren. Entschliesst er sich dann zur Abgrenzung, verspürt er sofort ein bisher ungekanntes Gefühl von Freiheit, eigener Kraft und Selbstwert bzw. innerer Würde.
[b4. Frühe Beziehungstraumen[/b] Seit drei Jahren erforsche ich – inzwischen gemeinsam mit Philipp Kutzelmann – die Dynamik früher belastender Beziehungs-Erfahrungen: emotionales Ignoriert-Werden, Ablehnung, Verurteilung. Häufig verbunden mit emotionaler Überforderung, mit emotionalem Benutzt-werden. Diese Belastungen mögen dem Erwachsenen als banal oder unvermeidbar erscheinen. Für ein Kleinkind sind sie existentiell bedrohlich. Das Aufstellungs-Setting – seit der Corona-Pandemie mit Holzklötzchen als Symbolen – ermöglicht den Klienten, ihr frühes Beziehungstrauma zu „rekonstruieren“. Und es zeigte sich, dass sie nicht nur ihr Trauma unbewusst als Introjekt – als „Stressor“ gespeichert hatten, sondern auch die beteiligten Bezugspersonen und deren Traumata, und dazu noch ihre eigenen „Anpassungsreflexe“ die das Überleben des hilflosen Kindes von damals ermöglicht haben. 4.1. Anpassungsreflexe Diese Anpassungsreflexe folgen dem einfachen Prinzip der Konditionierung. Ein Kind hat das Grund-Bedürfnis, wahrgenommen und geliebt zu werden. Seine angeborenen Überlebensreflexe bewirken, dass es die Einstellungen Gefühle und Verhaltensweisen, unterdrückt, die von den Eltern ignoriert oder abgelehnt werden. Statt dieser „spontanen Gesten“ übernimmt es die Einstellungen, Gefühle und Verhaltensweisen, die von den Eltern erwünscht sind und mit deren Zuwendung „belohnt werden“. So entstehen folgende stereotype Überlebensreflexe, die sich durch farbige Klötzchen- Symbole darstellen lassen: Selbst-Abwertung/Selbstverleugnung – um sich vor Verletzungen zu schützen, oder um andere zu schonen, unterdrückt der Klient (Fokus) sein emotional-kindliches Selbst (seine spontanen Gefühle: grüner Quader). Magisch-grandiose Tendenzen – um von den Eltern wahrgenommen und geliebt zu werden, geht der Klient (Fokus) auf eine höhere Ebene, entwickelt „Antennen“ nach aussen – statt nach innen – um sich besser an den Erwartungen und Einstellungen der Eltern orientieren zu können. Das ist verbunden mit Selbst-Überforderung (Perfektionismus, Helfer-Syndrom) und Kontrolle. So entsteht ein extrinsisches brüchiges Selbstwertgefühl, schwankend zwischen Selbst-Erhöhung und -Selbst-Abwertung.
Diese Überlebens-Reflexe werden offensichtlich zusammen mit dem eigenen Trauma, den Bezugspersonen und deren Trauma als „Stressorkomplex“ im Hirnstamm so fest gespeichert, dass die Betroffenen es für einen Teil ihrer Identität halten. Das hat für die Betroffenen gravierende Konsequenzen: Ihr Selbstbild, ihr Erleben und ihr Verhalten, ja sogar ihre Partnerwahl wird unbewusst durch dieses „Programm“ gesteuert, wie durch Zwang. Auch wenn sie erkenen, wie unpassend und leidvoll ihr Verhalten ist, sie konnten es allenfalls abschwächen mit mentalem Kraftaufwand. Es erweist sich als weitgehend „Therapie-resistent“. Die Therapien machen ihnen dieses „unangepasste“ Verhalten mental noch mehr bewusst. Und die wiederholte Erfahrung, das eigene Verhalten trotz dieser mentalen Einsichten nicht ändern zu können, verstärkte die bereits bestehende Resignation und Selbst-Abwertung.
4.2. Den Stressorkomplex rekonstruieren – und lösen.
Ausgehend von unseren bisherigen Erfahrungen, dass eine Trauma-Introjektion reversibel ist, d.h. entfernt werden kann, entwickelte ich zusammen mit Philipp Kutzelmann - ein Konzept, um diese frühen Beziehungstraumen zu lösen. Theoretisch scheint die Lösung einfach: das Ich-fremde Trauma-Introjekt muss ersetzt werden durch das Ich-syntone SELBST. Praktisch jedoch zeigten sich dabei grosse innere Widerstände. Die Entfernung des Trauma-Introjektes kann sich verboten oder gefährlich anfühlen. Hier könnten magische Fantasien wirksam sein, so als könne man sich vor einem erneuten Trauma nur dadurch schützen, dass man das alte Trauma „fest im Blick“ hat? Der Abschied von vertrauten Überlebensstrategien fällt manchen sehr schwer. Hatten sie doch bisher dem Klienten die Illusion von Wertigkeit und Orientierung gegeben. Aber auch die Identifizierung mit dem wahren Selbst erscheint vielen gefährlich, so als sei es „falsch“. War es doch in der Vergangenheit von der Umgebung, und dann auch von den Betroffenen selber als falsch oder gar gefährlich abgewertet worden. Diese Widerstände zu verstehen war entscheidend, um den Klienten aus diesem verwirrenden Labyrinth seiner Gefühle heraus zu begleiten. Um diese Verwirrungen zu erkennen und zu lösen entwickelten wir eine Abfolge von Lösungsschritten: den Algorithmus der Selbst-integrierenden Stressorauflösung (SISTA).
Die Aufstellungsvideos auf unserem Kanal zeigen, wie differenziert und angepasst an die jeweilige Problematik dieser „Algo“ angewendet werden kann.
Warum ist dies Prinzip der Rekonsolidierung, das u.a. Thomas Hensel und wir anwenden, nicht schon lange bekannt und findet breite Anwendung? Als ich begann, mit Beziehungstraumen zu arbeiten, habe ich vor ca. 4 Jahren den Sammelband „Komplexe Traumafolgestörungen“ gekauft. Er enthält detaillierte Erörterungen von 30 Trauma-Experten zu komplexen Behandlungsstrategien für die unterschiedlichsten Trauma-Folgestörungen. Ich fand jedoch keinen Hinweis darauf, dass das Trauma von damals als reversibles Introjekt verstanden werden kann, das relativ einfach entfernt werden kann. Daher teilte ich den 30 Autoren dieses Bandes meine Beobachtung mit. Und keiner antwortete! - Ausser Thomas Hensel! Daher schliesse ich mit einer provozierenden Frage: Kann es sein, dass die Forschungs-Institute von heute immer noch geprägt sind von verkrusteten hierarchisch-patriarchalem Beziehungs-Strukturen? Wird auch heute noch innovative Entwicklung gebremst durch eine emotionale Abhängigkeit von den Vorgesetzten – die ja auch die Karriere ihrer Mitarbeiter massgeblich beeinflussen?!
Ich erinnere: Vor 180 Jahren wurde in Wien der Geburtshelfer Ignaz Semmelweis angefeindet für seine Publikation zum damals häufigen Tod im Kindbett. Er hatte beobachtet, dass bei Entbindung durch einen Arzt die Sterberate höher war als bei Entbindung durch eine Hebamme. Er vermutete - zu Recht – die Ursache darin, dass die Ärzte oft vorher in der Pathologie Verstorbene seziert hatten und so unbewusst ein gefährliches Element – die Bakterien waren damals noch nicht entdeckt! - in die Kreißsäle gebracht haben. Oder vor 60 Jahren wurde Stanley Milgram wegen seiner bahnbrechenden Experimente zum Autoritätsgehorsam angefeindet und ausgegrenzt. Beide Forscher starben früh, Semmelweis in der Irrenanstalt, Milgram am Herzinfarkt.
Wenn diese Mechanismen noch heute wirksam sind, dann konnten diese innovativen Konzepte nur von Einzelpersonen entwickelt werden, z.B. in einer psychiatrischen Kassen-Praxis!?