Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.
„Gelassenheitsgebet“, das dem amerikanischen Theologen Reinhold Niebuhr zugeschrieben wird
In meiner Arbeit begegnen mir oft Menschen, denen diese Gelassenheit fehlt, die das eigene Schicksal – und das ihrer Familie - kontrollieren und bestimmen wollen. Vielleicht haben sie als Kind erlebt, dass ihre Eltern einem schweren Schicksal hilflos ausgeliefert waren, und von dem Kind erwarteten, sie zu retten. Eine schreckliche Überforderung. Die Betroffenen können auch später selber dem Schicksal nicht vertrauen, haben das Gefühl, das Schicksal kontrollieren zu müssen. So als sei das Leid der Kindheit noch nicht vorbei, so als könne es jeden Augenblick wieder geschehen. Sie sind in ständiger Alarmbereitschaft, das nimmt ihnen die Kraft, sie reiben sich auf, in einem chancenlosen Kampf mit dem Schicksal. Ihr Lebensgefühl ist geprägt von Stress, Panik, oft geraten sie in Erschöpfung, Resignation und Depression oder werden krank. Auf der Suche nach einer Lösung liess ich einen Klienten sich, und Repräsentanten für das Schicksal seiner Familie und für seine Selbstanteile aufstellen – entsprechend der Methode der „systemischen Selbst-Integration“(1): Das „erwachsene Selbst“, das seine Würde und Kraft spürt, das im Hier und Jetzt ist und das Schicksal bei der Familie und in der Vergangenheit lassen kann. Und das „kindliche Selbst“, das so alleine und schrecklich überfordert war und geschützt und begleitet werden möchte.
Das Familienschicksal Da zeigte sich: das Schicksal der Familie stand in der Mitte, der Klient ihm gegenüber, seine Aufmerksamkeit ganz fixiert auf das Schicksal. So als dürfe er es auch heute noch nicht aus dem Blick lassen, damit es sich nicht wiederholt (illusionäre Bewältigungsstrategie). Die Selbstanteile waren von ihm getrennt, entweder "umstellten" sie das Familienschicksal, so als müssten auch sie das Schicksal kontrollieren, oder sie hatten sich in eine Ecke zurück gezogen.
Der Klient erlebte zunächst das Schicksal der Familie als bedrohlich. Ich liess den Klienten den Platz des Familienschicksals einnehmen, da „kannte er sich aus“. Das Schreckliche war ihm vertraut, war ihm nahe, als sei es sein Eigenes und als sei es noch nicht vorbei. Oder er hatte die Illusion, für das Leid verantwortlich zu sein, als könne oder müsse er selber das Schicksal seiner Familie wenden. Dabei konnte er jedoch nur scheitern – und fühlte sich dafür als Versager und schuldig. Wenn ein Klient diesen Zusammenhang erkannte, war er bereit, den Platz des Familienschicksals zu verlassen. Gemeinsam mit dem Klienten verbeugte ich mich drei Atemzüge lang tief vor dem Schicksal seiner Familie: „vor dem Schicksal sind wir alle klein – und gleich“. Symbolisiert durch einen schweren Stein konnte er dem Repräsentanten des Familienschicksals das zurückgeben, was er immer noch trug, als wäre es sein Eigenes, als wäre er dafür zuständig. Nun stellte ich den Repräsentanten des Familienschicksals neben ihn, in seinen Raum. Auch das fühlte sich für ihn vertraut an. So als gehörte dies Schicksal zu seiner Identität, ins „Hier und Jetzt“. Ihm wurde bewusst, dass ihn genau das daran gehindert hatte, mit seinen Selbstanteilen verbunden zu sein. Und er führte symbolisch den Repräsentanten des Familienschicksals zurück auf seinen Platz – beim Familiensystem und in die Vergangenheit. Um sich mit seinen bisher abgespaltenen Selbstanteilen zu verbinden, war es als nächstes erforderlich, dass er sich symbolisch gegenüber dem Familienschicksal abgrenzte, und in der „Gegenabgrenzung“ erlebte, dass das Familienschicksal nicht zu seiner Identität gehört und dass es schon lange vorbei ist, „was vorbei ist, ist vorbei, es gibt kein zurück!“ Jetzt spürte er die Verbindung mit den eigenen Selbstanteilen. Das Familienschicksal erschien ihm nicht mehr so bedrohlich, es war vorbei und betraf ihn nicht in seinem Hier und Jetzt.
Das eigene Schicksal Nun ging es um die Beziehung zum eigenen Schicksal, für das der Klient einen anderen Repräsentanten aufstellte. Zunächst war der Klient sehr auf sein Schicksal fixiert, so als müsse er auch sein eigenes Schicksal ständig kontrollieren. Dadurch konnte er nicht mehr mit seinen eigenen Selbstanteilen verbunden sein, die sich dem eigenen Schicksal anvertrauen können. Auf dem Platz des eigenen Schicksal strahlte er, das war offensichtlich seine Illusion, als könne es ihm gelingen, sein Schicksal zu kontrollieren. Als ihm bewusst wurde, wie oft das misslungen war und wie er sich dann als Versager gefühlt hatte, war er bereit, auf diese Illusion zu verzichten und an seinen eigenen Platz zurück zu gehen. Um die eigene Ohnmacht gegenüber dem Schicksal anzuerkennen gibt es noch eine stärkere Übung: sich vor dem Schicksal flach auf den Boden legen. Manchen Klienten fällt es sehr schwer, die Kontrolle abzugeben. Wenn es ihnen gelingt, loszulassen, dann können sie die Erleichterung körperlich spüren. Der Klient legte sich flach vor dem Schicksal auf den Bauch. Er spürte, dass es etwas gibt, das ihn trägt: Die Erde. Sie hat ihn hervorgebracht, sie nährt ihn, gibt ihm Wasser und Luft - ohne dass er selber etwas dafür tun muss. Das erinnert an das „Handeln durch Nicht-Handeln“ des Laotse. „Wo nichts zu tun ist, bleibt nichts ungetan“. Berührend: als die Aufmerksamkeit des Klienten nicht mehr vom Schicksal absorbiert wurde, fühlten sich seine Selbstanteile von ihm angezogen, freundlich kamen sie auf ihn zu, und er konnte sich mit ihnen verbinden. Er fühlte sich vollständig, kraftvoll – und gelassen. So verbunden mit sich erschien ihm das Schicksal nicht mehr bedrohlich, fremd, sondern eher freundlich. Ein Repräsentant des Schicksals formulierte: ich bin nicht nur das Schreckliche der Vergangenheit, nicht nur das Schwere, ich bin auch das Leichte, das daraus entstehen kann. Im Schlussbild stand das Schicksal nicht mehr vor dem Klienten – es nahm nicht mehr seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch, und verstellte ihm dadurch den Weg in die Zukunft! – sondern hinter dem Klienten! Er konnte sich buchstäblich an das Schicksal anlehnen – und spürte körperlich, was es bedeutet, sich dem Schicksal anzuvertrauen, was immer es ihm auch bringen mag. Seine Aufmerksamkeit war nun frei für das, was auf ihn zukommt: seine Zukunft. Der Klient erlebt nun eine Erleichterung, eine Ruhe, eine Gelassenheit, die ihm bisher unbekannt war.
Auf drei Aspekte möchte ich besonders hinweisen. Auch hier geht es um eine Grenze, um eine Unterscheidung zwischen dem Bereich, in dem man zuständig ist, und etwas verändern kann, und einen anderen, in dem man nicht zuständig ist: dem Bereich des Schicksals. Ohne diese Unterscheidung kann es geschehen, dass man seine Kräfte im chancenlosen Kampf gegen das Schicksal verbraucht – Resignation, Erschöpfung, Gefühl des Versagens sind die Folge. Es bleibt keine Kraft mehr für den Bereich, in dem man zuständig ist – und wirksam sein kann. Diese Fixierung auf das Schicksal gehört zum Trauma. Der Verlust dieser Unterscheidung ist Folge einer Traumatisierung, möglicherweise ist sie der Kern einer jeden Traumatisierung. Für mich überraschend: Das eigene Schicksal – auch der Tod! - erscheint nun als ein weiterer Aspekt des Selbst. Versucht man sich, dagegen zu stellen, dann wird man in sich gespalten. Kann man es annehmen als etwas Zugehöriges, dann gewinnt man eine bisher unbekannte Gelassenheit. Diese Sequenz von Interventionen – sie dauert bisweilen nur eine halbe Stunde - verändert das Lebensgefühl eines Klienten rasch und anhaltend. Es kann eine Trauma-Aufstellung wirksam vertiefen. Zugleich lässt sie eine neue, eine spirituelle Dimension der Integrationsarbeit deutlich werden.
Wir kreieren selber unser Schicksal? In esoterischen Schriften wird manchmal die Auffassung vertreten, wir würden uns unser Schicksal – ohne Einschränkung - selber schaffen, es selber „kreieren“. Das erschien mir schon immer als verwirrend und belastend: Ich bin vielen Menschen begegnet, die sich dafür auch noch schuldig fühlten, dass es ihnen offensichtlich nicht gelingen wollte, ihr Schicksal selber zu „kreieren“. Wenn man diese Auffassung, wir könnten unser Schicksal selber gestalten, beschränkt, „auf die Dinge, die ich ändern kann“ - also die Unterscheidung des „Gelassenheitsgebetes“ berücksichtigt - dann erhält sie einen Sinn.
Ero Langlotz, München 26.12.15 (1) Ero Langlotz Symbiose in Systemaufstellungen. Mehr Autonomie durch Selbst-Integration. 2015 Springer Heidelberg
Eine Leserin schrieb dazu: Die Schilderungen zum "Schicksal" haben mich stutzig gemacht. Sie passen so gar nicht zu dem, was ich bisher von dir gehört und gelesen habe. Das vermeintliche "Schicksal" ist aber die eigene unbewusste Schöpferkraft der Seele. Und die Seele wiederum ist der Teil von "Gott" (der Quelle - wie auch immer man es nennt), der sich durch uns ausdrücken möchte. Die Seele / "Gott" möchte AUSNAHMSLOS das Beste für uns. Noch vor ihrer Inkarnation hat sie sich wohlüberlegt den Weg der Entwicklung ausgesucht. Oftmals bleibt es ihr Geheimnis, warum etwas für uns oder wen / was auch immer dienlich gewesen sein soll. Unser Verstand ist zu begrenzt, um Zusammenhänge im Großen und Ganzen ALL-EINS-SEIN zu erkennen. Dass es aber sehr klug und weise von ihr gewählt war, steht ausser Zweifel. Denn das Leben macht keine Fehler. Und "Gott" würfelt auch nicht. Die Zeit der Transformation fordert uns auf, vom (unbewussten) Opfer zum bewussten Schöpfer zu werden. Damit wir erkennen, was wir in Wirklichkeit sind: pure Liebe. Was hältst Du davon, den Stellvertreter für das bisher titulierte "Schicksal" zukünftig in einen Stellvertreter für die (unbewusste) "Schöpferkraft" umzubenennen? Die Schöpferkraft ist definitv ein Anteil des SELBSTES. Es ist das Höhere Selbst. Vor ihm dürfen wir uns verneigen - voller Vertrauen, Respekt und Achtung. Denn es will immer nur das Beste für uns. Auch wenn unser Ego das anders sieht.
Meine Antwort: Deine Beschreibung des Schicksals als der göttlichen Schöpferkraft in uns scheint mir sehr "esoterisch" - in dem Sinne dass jemand behauptet, er wisse über diese Dinge Bescheid, die nach meiner Einschätzung verborgen sind. Ich orientier mich an Laotse wenn er sagt: Das Tao, das benannt werden kann, ist nicht das Tao. Zu mir kommen Menschen mit sehr schweren Schicksalen. Wie würde jemand, dessen Familie im KZ ermordet wurde, auf deine Auffassung reagieren? Ich sehe, dass der von mir angewendete Prozess auch bei manchen von ihnen zu einer Versöhnung mit dem eigenen Schicksal, zu einem Nachlassen des Kontrollzwangs und damit zu einer bisher unbekannten Gelassenheit führen kann. Wenn das eigene Schicksal auf diesem Weg als ein Teil des eigenen Selbst angenommen werden kann, dann entspricht das ja dem Ergebnis deiner Überlegungen. Vielleicht meinen wir dasselbe, nur in verschiedenen Sprachen. Du sprichst die Sprache der "Eingeweihten", ich verwende die Sprache des Alltags, die auch meine Klienten sprechen. Den Begriff des Höheren Selbst verwende ich nicht. Meine Vorstellung von SELBST: Würde, unabhängig von Leistung, und Fähigkeit zu einem selbstbestimmten Leben entsprechen den menschlichen Grundrechten, wie sie auch in unserem Grundgesetz verankert sind. Allerdings habe ich die Beobachtung gemacht habe, dass das „Selbst“ sich als Teil des größeren Ganzen, als Teil der Erde versteht, und sich daher für die verantwortlich fühlt.