Hier wird ein neues Format der systemischen Selbst-Integration beschrieben. Es erlaubt, ein Problem dadurch zu lösen, dass ein für dies Problem verantwortliche Trauma bewusst gemacht und behandelt wird. Dabei kann es sich um traumatische Erfahrungen aus der eigenen Biografie, aber auch um übernommene Traumata aus dem Familiensystem handeln - „Transgenerationale Traumatherapie“.
PROBLEM ALS SCHLÜSSEL ZUR LÖSUNG Wenn wir annehmen, dass jeder Klient grundsätzlich einen Selbstanteil hat, der seine Probleme lösen kann, dann können wir umgekehrt schliessen: wenn ein Problem auftaucht, dann ist der Klient nicht mit diesem Selbstanteil verbunden, weil ein Introjekt ihn daran hindert. Wie lässt sich dies „blockierende Element“ (BE) genauer bestimmen? Um das herauszufinden, stelle ich zwischen Klient und sein Selbst einen Hocker als Repräsentant für das vermutete BE. Der Klient spürt, ob dies BE zu seiner Identität „hier und heute“ gehört, wenn nicht, dann stellt er es aus seinem Raum heraus. Als nächstes „testet“ er den Platz des BE, und achtet auf die Gefühle und Bilder, die in ihm aufsteigen. Bisweilen taucht sofort das Bild eines Traumas auf, das er selbst oder seine Familie erlebt hat, verbunden mit sehr heftigen Gefühlen. Oder es taucht zunächst nur ein Gefühl oder ein Glaubenssatz auf, welcher seine Verbindung zum Selbst blockierte. Dann stelle ich einen weiteren Stuhl neben das BE als Repräsentant für die „Quelle“ dieses Gefühls oder dieses Glaubenssatzes und lasse ihn auch diesen Platz „testen“. Meist taucht jetzt ein Bild des Traumas auf. Nachdem auf die geschilderte Weise das Trauma entdeckt wurde, das für das aktuelle Problem ursächlich ist, kann der Klient noch einmal spüren, wie es sich anfühlt, wenn dieses Trauma - und das damit verbundene Gefühl oder der Glaubenssatz - in seinem Identitätsraum ist. Meist fühlt sich das für ihn sehr bekannt an, bisweilen sogar als unverzichtbar! So als würde es ihm Identität und Sicherheit geben! Jetzt hat er die Möglichkeit, zu entscheiden, ob dies Trauma HIER UND HEUTE zu seiner Identität gehört - oder nicht. Wenn er jetzt dies bewusst gewordene Trauma aus seinem Raum entfernt, spürt er meist sofort eine bessere Verbindung zu seinem Selbst. Bemerkenswert: auch wenn das Trauma nicht genau benannt werden kann, kann die Entfernung dieses unbenannten – aber gefühlsmässig „bekannten“ - Traumas zu einer besseren Selbstverbindung führen. Um diese Verbindung zu tiefen, kann er sich, wie gewohnt, gegenüber dem Trauma abgrenzen und in einer Gegenabgrenzung körperlich erfahren, dass der „Raume des Traumas“ hier und heute nicht zu seiner Identität gehört.
Folgende Fallbeispiele sollen das erläutern.
1.Verspannung der Kaumuskeln Johanna, eine 50jährige Therapeutin, engagiert sich für afganische Asylanten. Nachdem sie sich dafür eingesetzt hat, dass sie einen Ausbildungsplatz erhalten, kommt jetzt die Entscheidung der Bundesregierung, afganische Flüchtlinge zurück in den Irak zu schicken. Sie spürt an ihren „angespannten“ Kaumuskeln, wie sehr sie das belastet, und möchte das klären. J. stellt Repräsentanten auf, für sich und für „den erwachsenen Selbstanteil, der unbeschwert mit diesem Problem umgehen kann“ (ES) und für BE (das blockierende Element). Wie zu erwarten steht dieses zwischen ihr und dem ES. Wenn sie erkennt, dass das BE nicht zu ihrer Identität „hier und heute“ gehört, dann kann sie durch einen Schal die Grenze ihres Identitätsraumes markieren und das BE auf die andere Seite der Grenze stellen. Danach kann sie das BE untersuchen, indem sie den Platz des BE „testet“, indem sie sich an seinen Platz stellt und spürt, was an diesem Platz auftaucht: ein Gefühl, ein Satz, ein Bild, ein Schicksal. In diesem Fall kommt eine tiefe Trauer hoch. Neben das BE wird nun ein Stuhl gestellt, Symbol für „die Situation, oder für die Person, zu der das BE gehört.“ Das kann sich auf J.`s eigene Lebensgeschichte oder auf ihr Familiensystem beziehen. J. erinnert sich an Mutters Vater, der als Soldat in Gefangenschaft geriet und nach der Entlassung auf dem Heimweg verhungerte. Die Mutter war damals erst 11 Jahre. J. ist sehr aufgewühlt, ihr war bisher nicht bewusst, wie sehr dies Schicksal ihr trauriges Lebensgefühl und speziell ihre Anteilnahme an dem Schicksal der afganischen Flüchtlingen bestimmt hat. Sie überprüft die Hypothese, dass sie diesen Grossvater noch in ihrem Identitätsraum hat und kann ihn dann „bei allem Respekt“ aus ihrem Identitätsraum entfernen. Sie gibt einen schweren Stein zurück als Symbol für die Trauer und den Schmerz, den Grossvaters Schicksal für die Familie und speziell für ihre Mutter bedeutet hat, und der sie bisher belastet hat – ohne dass sie sich dessen bewusst war. Es folgen die Abgrenzung gegenüber dem Grossvater und dessen Schicksal und die „Gegenabgrenzung“ : der Therapeut grenzt sie ab, als sie – wie gewohnt - versucht in den Raum des Grossvaters zu gehen. Nach diesem Abgrenzungsprozess gegenüber dem blockierenden Element ist der Weg zum ES frei, sie kann jetzt mit ihrem eigenen Selbst verschmelzen – statt mit dem Schicksal des Großvaters. Als sie erkennt, dass sie ihren Grossvater durch ihre Trauer festgehalten hat, kann sie ihn loslassen und dahin gehen lassen, „wo er seinen Frieden findet.“ Vorher gibt ihr der Grossvater noch seinen Segen: „Lebe dein eigenes Leben, lebe deine Freude, lebe deine Liebe, du bist frei!“ Am nächsten Tag berichtet J. dass die Anspannung in ihren Kaumuskeln verschwunden ist.
2. Ein jüdisches Schicksal Berta, eine 60-jährige Therapeutin, klagt über Verlustängste. Sie zittert, sie stellt das BE zwischen sich und ihr ES. Als die den Platz des BE testet, erinnert sie sich an das Schicksal ihrer sehr geliebten jüdischen Grossmutter, sie floh nach Holland, ihre Kinder nach England und USA, ein Sohn brachte sich um. Die ganze Familie wurde auseinandergerissen. Sie kennt das BE als Introjekt, kann es mit Respekt aus ihrem Raum heraussetzen. Abgrenzung, Gegenabgrenzung. Sie kann die Grossmutter loslassen - „Ich muss dich nicht durch mein Leiden in deinem Leiden festhalten!“ - und bekommt noch ihren Segen. Die Grossmutter kann ins Licht gehen, sie dreht sich um und geht 7 Schritte ins „Hier und Jetzt“.
3. Mangelnder Erfolg Werner, ein 60-jähriger Therapeut klagt über mangelnden Erfolg. Er stellt sein ES 3 Schritte rechts von sich, er und ES fixieren das BE, das etwa 3 Schritte vor ihnen steht. Sein ES schwankt. Als er den Platz des BE testet, schwankt auch er. Er erinnert sich daran, dass seine Eltern – 5 Jahre vor seiner Geburt – ausgebombt wurden und alles verloren. Das BE in seinem Raum zwischen ihm und dem ES fühlt sich bekannt an. Als der Klient das BE aus seinem Raum stellte, spürte er eine paradoxe Verbindung zu diesem BE.
Er erkennt, dass dies Trauma seiner Familie nicht in seinen Identitätsraum hier und heute gehört, und kann es aus seinem Raum heraussetzen und es abgrenzen – Gegenabgrenzung. Die anwesende Lebensgefährtin - die Werner und seine Familie seit 30 Jahren kennt - hatte nie etwas von diesem Trauma der Familie gehört! Dies Trauma war sehr präsent – aber gleichzeitig war es Tabu.
4. Wenn ich mich vor anderen zeigen möchte, verschlägt es mir die Sprache Regina, eine 55-jährige Therapeutin, verspürt immer noch bei Auftritten vor einer Gruppe eine innere Aufregung, die ihr fast die Sprache verschlägt. Als BE erweist sich das Schicksal einer Tante, die als Kind im Krieg auf der Flucht eine Hirntrauma erlitt. Es konnte nicht behandelt werden, sodass sie geistig behindert war. Sie konnte auch nicht mehr sprechen, sondern konnte nur noch „unmenschliche“ Laute stammeln. Sie und diese Tante mochten sich sehr, und immer wenn sie zu Besuch kam, begrüsste die Tante sie mit herzlichen, aber unschönen Stammel-Lauten – sodass die Familie – peinlich berührt - versuchte sie zum Schweigen zu bringen. Für Regina war das doppelt schmerzlich, da sie selber von dieser Familie eher kühl und abweisend behandelt wurde. Das Bewusstwerden dieses Schicksals war mit heftigen Gefühlen verbunden. Auch der Abschied von dieser Tante war nicht leicht. Befreiend war der Satz: „Für dich ist es schon lange vorbei. Ich muss dich nicht mehr durch mein eigenes Leiden in deinem Leid festhalten. Du darfst jetzt deinen Frieden finden!“ Oder – mit einem Augenzwinkern zu der lieben Tante: „Auch ich bin ein bisschen behindert!“
5. Ich kann mich nicht aus einer unglücklichen Ehe lösen Inge, eine 55-jährige Frau lebt seit Jahren in einer unglücklichen Ehe. Welches Element blockiert ihre Verbindung zu dem Selbst-Anteil, der diese Ehe entweder glücklicher gestalten – oder beenden kann? Zunächst taucht ein Gefühl des Abgeschnitten-Seins auf und als „Quelle“ dieses Gefühls zeigte sich ihre eigene Situation als 3 Monate altes Kind, als sie wegen einer Hüftdysplasie für Monate in die Klinik musste. Sie erkannte, dass dies frühe Trauma offensichtlich noch in ihrem „Identitätsraum“ war. Da es aber „hier und heute“ nicht zu ihrer Identität gehört, konnte sie es aus ihrem Raum herausstellen. Aber die Verbindung zu ihrem Selbst war immer noch blockiert. Ich vermutete eine weiteres blockierendes Element, und stellte einen Repräsentanten für dies BE zwischen Sie und ihr Selbst. Auf dem Platz des BE spürte sie schreckliche Ohnmacht und ein Überwältigtwerden. Als „Quelle“ dieses Gefühls wurde ihr mit grossem Schmerz das Schicksal ihrer Grossmutter bewusst. Sie musste, alleine mit Mutter und Grossmutter und zwei Kindern Pommern verlassen. Ihr Mann kam zwar aus dem Krieg zurück – aber sie war ihm ein Leben lang dafür böse, dass er sie wegen des Kriegs im Stich gelassen hatte. Nach der Entlassung aus der Klinik war sie zunächst bei dieser Grossmutter – daher die Verknüpfung dieser beiden Traumata? - Sie hatte diese Grossmutter sehr geliebt, war noch sehr mit ihr verbunden und konnte sie nur schwer loslassen. Auch ihr half der Satz: „Ich muss dich nicht mehr durch mein eigenes Leiden in deinem Leid festhalten, du bist jetzt frei, dorthin zu gehen, wo du deinen Frieden findest“. Danach konnte die Grossmutter ihr den Segen geben: „Lebe dein eigenes Leben, lebe deine Liebe, du bist frei!“ Hier haben wir gleich zwei blockierende Elemente, eines aus der Biografie der Klientin, das andere aus der Biografie ihrer wichtigsten Bezugsperson. Bisweilen gibt es auch mehrere blockierende Elemente, und diese Kombination macht die Lösung bisweilen schwierig.
ÜBER GENERATIONEN HINWEG ÜBERNOMMENE TRAUMATA In diesen Fallbeispielen begegnet uns das häufige Phänomen, dass ein Trauma über Generationen hinweg weiter gegeben wird. Wie kann man sich das vorstellen? Es ist anzunehmen, dass z.B. J.s Mutter (1. Fallbeispiel) durch den frühen Verlust ihres Vaters, und durch das Leid, das die ganze Familie betraf, sehr geprägt wurde. Bildlich ausgedrückt war J.s Mutter noch mit dem verstorbenen Vater verbunden, hatte ihn ihrerseits als INTROJEKT in ihrem Raum und konnte daher nicht als unbeschwerte Mutter für ihre Tochter da sein. Um ihrer Mutter nahe zu sein, musste J. sich „in Mutters Raum“ begeben, und begegnete dort der Trauer um das Schicksal des Grossvater. Wir sehen immer wieder, dass Kinder dazu neigen einem traumatisierten Elternteil das geben oder ersetzen zu wollen, was ihm gefehlt hat. Wahrscheinlich hatte sie versucht, der Mutter deren verstorbenen Vater zu ersetzen. Durch diese Parentisierung, durch diese „Identifizierung“ mit dem Grossvater geriet der Grossvater als „Introjekt“ in ihren Raum, und hinderte sie daran, sich mit der unbeschwerten erwachsenen J. zu verbinden. Durch dieses neue Format kann jedes „Problem“ eines Klienten dazu verwendet werden, solche bisher unbewusste blockierenden Introjekte zu erkennen und „mit allem Respekt“ zu entfernen. Dann gelingt wieder die Verbindung mit dem unbeschwerten erwachsenen Selbstanteil, der fähig ist, das bisher unlösbare Problem zu lösen.
SYSTEMISCHE SELBST-INTEGRATION – UND HELLINGER Das hier vorgestellte Konzept ist aus dem Familienstellen entstanden, das ich von Bert Hellinger persönlich lernte. Zunächst übernahm ich auch seine Theorie eines „Sippengewissens“, welche das häufige Phänomen erklären soll, dass ein Klient mit dem schweren Schicksal eines Angehörigen verbunden ist, den er vielleicht gar nicht selber kennen lernen konnte. Dieses Sippengewissen sorge dadurch für „Vollständigkeit“, indem ein Späterer das Schicksal eines „ausgeklammerten“ Familienangehörigen vertreten müsse – unschuldig und unwissend. Daraus ergäbe sich zwingend als Lösung, der Klient müsse dies Schicksal „in sein Herz“ nehmen. Auch ich habe zunächst nach dieser Theorie gearbeitet. Und wenn das Problem eines Klienten nach einer derartigen Aufstellung nicht gelöst war, dann suchte – und fand ich natürlich – ein weiteres schweres Schicksal seiner Familie, das der Klient in einer Aufstellung „anschauen“ und in sein Herz nehmen sollte. Vielen Klienten ging es jedoch nach den Aufstellungen nicht besser, sondern schlechter. Das war für mich der Grund, mich von Hellingers Theorie zu distanzieren. Heute scheint mir, dass ich durch derartige Aufstellungen die Identifizierung mit Schicksalen der Familie nicht gelöst, sondern noch verstärkt habe. Durch die Aufforderung, dem anderen einen Platz in seinem Herzen zu geben, habe ich dem Klienten zu einem zusätzlichen INTROJEKT verholfen und so seine Selbst-Entfremdung noch verstärkt.
Bemerkenswert scheint mir, dass Hellinger selber anfangs zwischen einer „blinden“ Liebe – die das Schicksal des Familienangehörigen nachahmt – und einer „sehenden“ Liebe unterschied. Allerdings würde ich die blinde „Liebe“ in Parenthese setzen. Wenn ein Klient durch eine identifizierende Verschmelzung mit dem Angehörigen dessen Leid übernimmt, dann verstehe ich das eher als Symbiose, denn als Liebe. Das wird schnell deutlich, wenn man sich vorstellt, wie diese nachahmende „Liebe“ z.B. für den derartig „geliebten“ Großvater wirken würde: beglückend oder belastend. Bei der „sehenden“ Liebe achtet der Klient das Schicksal des anderen, indem er sich vor ihm verneigt. So wird eine Grenze zumindest angedeutet. Hellinger und seine Nachfolger haben diese Spur jedoch nicht weiter verfolgt. Ich verstehe die Systemische Selbst-Integration als eine logische und fruchtbare Weiterentwicklung dieses ursprünglichen Ansatzes von Hellinger. Diese Ausführungen zeigen, dass dies Konzept neue und rasch wirkende lösungsorientierte Strategien auch bei transgenerationalen Traumata ermöglicht. Diese Form der Systemaufstellung ist eine sehr wirksame Traumatherapie.