Einführung Man weiss, dass in etwa 20% aller Schwangerschaften ein zweiter Embryo angelegt ist. Aber nur in 2% kommen beide als Zwilling zur Welt. Das heisst, dass ca. 18% aller Menschen früh einen Zwilling verloren haben, der abgegangen ist oder resorbiert wurde, bereits in den ersten 4-10 Wochen. Die Mutter bemerkt es meistens nicht, auch der Betroffene weiss nichts davon. Nur selten gibt es „objektive“ Beweise für die Existenz eines verlorenen Zwillings: z.B. wenn die Hebamme eine leere zweite Plazenta findet. Aber es gibt indirekte Hinweise. In der Seele des „überlebenden“ Zwillings hinterlässt dieser frühe Verlust eine Spur. Manche haben das Gefühl, nicht in der Familie, nicht im Leben angekommen zu sein. Sie fühlen sich mehr in anderen Welten zuhause als auf dieser Erde. Manche haben das Gefühl, adoptiert zu sein, manche kennen das Thema Tod: Todesangst, Todesnähe oder Todessehnsucht. Zusätzlich haben viele Betroffene extreme Verlustängste, klammern sich an die Mutter – verständlich nach diesem frühen Verlust. Die Betroffenen haben immer grosse Abgrenzungsprobleme. Ihr Autonomie-Diagramm zeigt oft einen harmonischen Kreis, jedoch eingeschränkt auf etwa auf Zwei Drittel. In ihrem Wesen haben sie bisweilen eine Aura von Unschuld und Arglosigkeit. Sie scheinen irgendwie zu schweben und verstärken so den Eindruck, nicht ganz von dieser Welt zu sein. Bisweilen aber haben Kinder, die im Mutterleib einen Zwilling verloren haben, noch eine Erinnerung an das verlorene Geschwister. Manchmal fragen sie die Mutter: wo ist mein Geschwister? Die Mutter ist dann besorgt, glaubt gar, dass ihr Kind „spinnt“, und verbietet ihm vielleicht sogar, von seinem Geschwister noch einmal zu sprechen.
Fallbeispiel Margarete Kürzlich kam Margarete (Name geändert) zur Beratung. Ihr Anliegen: Sie verliere sich selbst in Beziehungen. Das Autonomie-Diagramms zeigte den eingeschränkten Kreis und ich sagte ihr, dass das durch einen verlorenen Zwilling bedingt sein könnte . Überrascht berichtete sie, dass sie immer eine grosse Sehnsucht hatte, nach einem Bruder. Sie habe sich in dieser Welt und im Leben nie zuhause gefühlt hatte. Sie sei sehr einsam gewesen, wollte lieber bei ihm sein, als im Leben. Sie hatte noch Gedichte zu diesem Thema, die sie zwischen dem 12. und 22. Lebensjahr geschrieben hatte. Keiner hatte sie – und ihre Gedichte - verstanden. Sie selber hatte schon die Sorge, „verrückt“ zu sein. Mit 13 Jahren machte sie einen Suizidversuch. Sie zeigte mir die von ihr verfassten Gedichte. Sie haben mich tief berührt. Es ist sehr ungewöhnlich, dass ein 12jähriges Kind den Verlust eines Zwillings-Bruders, die Einsamkeit und die Todessehnsucht so intensiv spüren, und so gekonnt ausdrücken kann. Diese Gedichte sind für mich wie ein Geschenk. Sie geben mir die Gelegenheit, an einem „Originaldokument“ eine sehr verwirrende Dynamik zu verdeutlichen. Eine Dynamik, die ich häufig bei Klienten finde, die früh einen Angehörigen verloren haben - nicht nur beim Thema „verlorener Zwilling“. Dabei zeigt sich: es handelt sich um ein ganzes Bündel von Dynamiken, die sich überlappen und sich gegenseitig verstärken. Sie bilden buchstäblich ein Labyrinth, aus dem die Betroffenen selber meist keinen Ausweg ins Leben finden. Ich gebe hier – mit ihrer Erlaubnis – zunächst einige dieser Gedichte unverändert mit meinen Kommentaren wieder. In einem späteren Beitrag skizziere ich den Lösungsprozess.
Jetzt bist du tot (12,5 Jahre)
Jetzt bist du tot, kleine Gestalt wirst immer in meinem Herzen wohnen ich fühl mich hintergangen, ohne Halt wird sich diese Trauer lohnen?
Ich kann nicht Aufwiedersehen sagen bitte weine nicht ich kann dich keine Fragen fragen aber im Dunklen seh ich ein Licht.
Ich spüre, dass du dieses Licht bist schließ ich die Augen, sehe ich dich. Es ist eine kalte, lange Frist und wie du leidest, dass fühle ich.
Kommentar Hier tauchen verschiedene Motive auf: Eine enge Verbundenheit, ja Verschmelzung mit einem toten Wesen. Erstaunlich und sehr treffend die Aussage: „Ich kann nicht Aufwiedersehehen sagen“ - Abschied ist unmöglich – das kann sowohl die Ursache als auch die Folge dieser Verschmelzung sein – oder beides im Sinne einer sich selbst verstärkenden Dynamik. Die Autorin identifiziert sich mit dem Schicksal des Zwillings, das ja schon lange abgeschlossen ist. Sie spürt jeden Tag den Schmerz, als wäre es ihr Schmerz, als wäre es ihr Schicksal, das sie jeden Tag von neuem trifft. Wenn beim Verlust eines Angehörigen ein „erwachsenes“ Abschiednehmen nicht möglich ist, finde ich häufig die Illusion, man könne mit dieser Person dadurch verbunden bleiben, dass man deren Schicksal, deren Leid teilt. Und diesen übernommenen Schmerz scheint sie zurück auf den verstorbenen Zwilling zu projizieren, so als würde ER noch jeden Tag leiden – dabei ist es für ihn ja schon lange vorbei. Und auch dies auf den Bruder projizierte Leiden teilt sie: „wie du leidest, dass fühle ich.“ Man könnte diese Dynamik als Kombination von Identifizierung und Projektion verstehen, welche die Intensität des Leids verstärkt, ähnlich wie bei einem Rückkopplungs-phänomen. In dieser engen Verbindung mit dem Toten bleibt sie jedoch einsam, alleine. Sie beginnt das Gedicht, als wolle sie ein Gespräch mit dem Bruder beginnen - aber er gibt keine Antwort, es entsteht kein Dialog: „ich kann dich keine Fragen fragen.“ Einzig eine wage Hoffnung: „aber im Dunklen seh ich ein Licht.“ Trotz dieser verwirrenden Dynamiken gibt es Ansätze zu einer „realistischen“ Sicht: der wage formulierte Vorwurf: „ich fühl mich hintergangen, ohne Halt“, und die Ahnung von Vergeblichkeit: „wird sich die Trauer lohnen?“
Diese Kombination von Identifizierung, Illusion und Projektion schafft ein sich gegenseitig verstärkendes Geflecht von Verwirrungen, aus dem herauszufinden immer schwieriger wird.
Bin ich wirklich so allein? (14 Jahre)
Bin ich wirklich so allein? Mit meinem Denken und Fühlen? In der Stadt meiner Gedanken gibt es keinen Halt und kein Zeichen. Es gibt niemanden, der versteht und wenn doch, so verlässt er mich. Ich bin so leer und um mich her zieht das Leben die Realität. Ich höre unbeschwertes Lachen und rolle mich zusammen halte mir die Ohren zu und schließe die Augen ich möchte und kann nicht teilhaben. Und doch wollte ich nichts lieber als das. Ich möchte tief in die kühle Erde die mich umhüllt und nicht verletzt. Und später aufsteigen, am Regenbogen empor klettern. Mein Bruder. Wird singen und ich lausche verzaubert und Wesen voller Güte werden mich mit sich führen und lächeln. Wann holst du mich denn endlich? Nimmst du mich auch mit ohne Gegenleistung? Ich kann dir nämlich nichts geben außer die zerschundene Hülle meines jämmerlichen Ichs.
Kommentar In diesem Gedicht begegnen wir wieder dem Thema „alleine sein“. Aber jetzt ist es nicht nur der fehlende Dialog mit dem toten Zwilling, sondern auch der unmögliche Dialog mit den Lebenden: „Bin ich wirklich so allein? Mit meinem Denken und Fühlen? ...Es gibt niemanden, der versteht und wenn doch, so verlässt er mich.“ Ohne den Kontakt und Austausch mit den Lebenden bleibt sie alleine mit ihren Gedanken, wie gefangen, und sie spürt: „In der Stadt meiner Gedanken gibt es keinen Halt und kein Zeichen.“ Sie nimmt die Realität und das Leben um sie herum wahr: „Ich höre unbeschwertes Lachen, und rolle mich zusammen, halte mir die Ohren zu und schließe die Augen ich möchte und kann nicht teilhaben. Und doch wollte ich nichts lieber als das.“ Es wird eine schmerzliche tiefe Zerrissenheit deutlich, zwischen der Verbindung zum toten Bruder und dem Wunsch, „am unbeschwerten Lachen teil zu haben.“ Die – unlebendige und illusionäre - Verbindung zum verlorenen Bruder ist jedoch so stark, dass es sie daran hindert, mit dem Lebendigen in sich und um sie herum Beziehung aufzunehmen. So als würde sie dadurch die Verbindung zum Bruder verlieren, als würde sie ihn verraten. Das Lebendige – trotz aller Sehnsucht danach – erscheint dann als gefährlich, bedrohlich. Um den Bruder nicht zu verraten, ist sie bereit, ihr eigenes Selbst zu verraten! Als Ausweg aus dieser schmerzlichen Zerrissenheit entsteht ein verständlicher Wunsch, im Tod Erlösung zu finden: „Ich möchte tief in die kühle Erde, die mich umhüllt und nicht verletzt.“ Dazu kommen quälende Zweifeln, selber nichts wert zu sein, selber dem verstorbenen Bruder nichts geben zu können „ausser die zerschundene Hülle meines jämmerlichen Ichs.“
wie das Leben über mich herfällt. (16 Jahre)
Die Intensität so wie das Leben über mich herfällt. Soviel Kraft wie soll ich dagegen halten? Wenn es mich von allen Seiten bedrängt. Diese Energie diese Begeisterung diese Faszination und Fantasie. Ergreift meinen ganzen Körper kann es so tief in mir fühlen möchte es nur noch zerstören. Töten. Abtöten diese Wucht dieses Leben. Wie bin ich schwach und ohnmächtig unwissend und elend. Es gibt nichts anderes als diese Welle - ertränkt mich. Diese Intensität. Was soll ich mit der Lebenskraft? Wenn sie doch nur leidend macht und sterben. Wann darf ich endlich sterben?
Kommentar In der Pubertät nimmt „die Lebenskraft mit Energie und Begeisterung zu, die den ganzen Körper erfasst.“ Wird diese Kraft in der Lage sein, die illusionäre Verbindung zum Bruder und zum Tod zu lösen? Zunächst einmal ist die „Treue“ zum toten Bruder stärker. Die gesunde Kraft, die ins Leben führen könnte, richtet sie jetzt unvermittelt, im gleichen Satz gegen die Lebendigkeit, die als gefährlich erlebt wird: „möchte es nur noch zerstören. Töten. Abtöten diese Wucht, dieses Leben.“ Dies innere Drama blockiert die eigene Kraft, erlaubt keine Orientierung mehr: „Wie bin ich schwach und ohnmächtig unwissend und elend.“ Wenn Leben als Leiden erfahren wird, bleibt nur der Wunsch: „wann darf ich endlich sterben?“
Ein Dilemma zwischen Leben und Tod Diese Gedichte sind Dokumente eines heftigen inneren Dramas, eines anscheinend unlösbaren Dilemmas zwischen Leben und Tod. Die Intelligenz und die poetische Kraft der Autorin zeigt sich in der Wahl ihrer Themen und im sprachlichen Ausdruck. Ein Dialog mit dem verstorbenen Zwilling, aber auch mit den Lebenden war ihr nicht möglich. Gefangen „in der Stadt meiner Gedanken“ war es für die Verfasserin wohl entlastend, ihre Gedanken und Gefühle in Form von Gedichten aus sich heraus zu setzen, wie in einem Dialog mit sich selbst. Es ist schmerzlich, dass diese schöne Kraft zunächst nicht ins Leben führte. Da sich diese Kraft nicht konstruktiv entfalten konnte, suchte und fand sie andere destruktive „Kanäle“: die Autorin unternahm einen Suizidversuch, der missglückte, sie suchte durch Drogen einen Ausweg zu finden. Und sie erkrankte an einem juvenilen Diabetes.
Ich stelle diese Gedichte – mit Erlaubnis der Autorin – ins Forum. Ich denke, dass es viele ähnlich Betroffene gibt, für die das eine Chance sein kann, ihre eigene Verwirrung besser zu verstehen. Sie können Ihren Kommentar dazu hier eintragen. Ero Langlotz, 29.1.2017
Mit Erlaubnis von S. stelle ich den folgenden Beitrag ins Forum. S. suchte mich auf wegen einer rezidivierenden Psychose. Sie hatte selber in einer Aufstellung einen Zwilling verabschiedet. Zu den Gedichten von M. schrieb sie mir: „Die Zwillingsgedichte von G.und dein Kommentar dazu haben mich sehr berührt. Hier ist vieles so klar und deutlich angesprochen, dass es mich, in all der Tragik, echt zum staunen bringt. Es ist echt eine verfahrene Situation! Ich hatte als Kind eine Phase, an die ich mich noch sehr deutlich und intensiv erinnern kann, in der ich nicht glauben wollte dass ich das Kind meiner Eltern bin. Ich dachte ich sei vertauscht worden. Ich war auch als Kind sehr nah an der Spiritualität, habe von Engeln erzählt und hatte einen "unsichtbaren" Spielkameraden. Meine Eltern haben mich leider damit " verarscht", so habe ich das zumindest empfunden. Denn mein Vater hat den Namen dieses fantasierten Spielkameraden als Funkspruch mit seinen Kumpels verwendet. Da fühlte ich mich im nach hinein beraubt wie so häufig. Ich wollte eine Zeit lang auch mit meiner Schwester wie Zwillinge aussehen, das hat aber nicht so ganz funktioniert;-). Ich war phasenweise ein sehr trauriges gebeugtes Kind.“ Meine Antwort: Liebe S. Wir hatten ja für die Vermutung, dass du einen Zwilling verloren hast, keine objektiven „Beweise“. Das entscheidende „Indiz“ bisher war, dass du in der Aufstellung so emotional auf die Begegnung und Verabschieden des – zunächst nur vermuteten - Zwillings reagiert hast. Daher sind die von dir jetzt angesprochenen Themen sehr wichtig:
o Das Gefühl, die Eltern seien nicht die richtigen Eltern, o Das Gefühl, eine Verbindung zu „Engeln“ zu haben - zu einer anderen Welt. o Und das Bedürfnis, einen „Ersatz“ für den verlorenen Zwilling zu finden, o in der Fantasie – ein „unsichtbarer Spielkamerad“ - o in der eigenen Familie – die Schwester - o oder vielleicht auch in einer Freundin. Diese Themen finde ich sehr häufig bei Menschen, die einen Zwilling verloren haben. Sie sind für mich inzwischen so etwas wie Indizien für einen verlorenen Zwilling. Vor allem wenn mehrere dieser Indizien vorliegen, wie bei dir, habe ich keinen Zweifel an der Existenz eines verlorenen Zwillings. Auch das andere Thema, dass Eltern diese Reaktionen ihres Kindes nicht verstehen, und dadurch irritiert werden, ist häufig. Meine Hypothese: Wir wissen, dass dein Vater selber traumatisiert ist, in sich selber verunsichert. Sehr wahrscheinlich hatte er gehofft, diese Sicherheit, die ihm fehlte, bei der Partnerin oder bei einem Kind zu finden. Wenn das Kind diese Erwartungen nicht erfüllt, dann ist ein Vater manchmal enttäuscht, wertet das eigene Kind ab oder macht sich darüber lustig. Für das Kind ist das wie ein emotionales Benutzt-Werden und ein Vertrauensbruch. Eine derartige Erfahrung stärkt nicht das Selbst-Vertrauen eines Kindes, im Gegenteil, das gibt ihm das Gefühl, falsch zu sein, und nicht Wert, geachtet zu werden. Die Beziehung zu den Eltern - bereits gestört durch eine „Loyalität“ zu dem verstorbenen Zwilling, der ja auch bei den Eltern nicht „ankommen“ konnte - ist dadurch zusätzlich belastet. Das verstärkt eine bereits vorhandene Tendenz des Kindes, in andere Welten abzudriften.
Meine Hypothese: Für die Entstehung deiner Psychose sind diese Aspekte eine wesentliche Ursache. Der letzte Aspekt könnte durch eine weitere Aufstellung geklärt und gelöst werden. Wenn du in einer Aufstellung deinen Eltern – den Repräsentanten oder vielleicht auch den realen Personen! - deinen Zwilling vorstellst, dann können sie auch dieses Kind zunächst begrüssen und dann verabschieden. Das kann eine unsichtbare Hürde beseitigen, die bisher zwischen dir und deinen Eltern bestand. Manche Klienten hatten nach einer derartigen Aufstellung das Gefühl, erst jetzt wirklich auf dieser Erde angekommen zu sein. Ero Langlotz, 5.2.2017
Das Konzept der systemischen Selbst-Integration (SSI) ist in der täglichen therapeutischen Auseinandersetzung mit Klienten entstanden, die unter anderem durch den frühen Verlust eines Angehörigen in ein derartiges Dilemma geraten sind. Und sie erwies sich als sehr wirksam, um auch Margarete einen Ausweg aus ihrem Labyrinth zu eröffnen. Ich erläutere zunächst das Prinzip der SSI und skizziere dann den Lösungsprozess von Margarete.
Die Grundannahmen der SSI: SELBST, GRENZE, RAUM Jeder hat etwas mit der Geburt mit bekommen, was ihn einzigartig und einmalig macht, etwas, was seinen Wert in sich trägt – unabhängig von Leistung: sein SELBST. Es ist allerdings zunächst nur eine Anlage, eine Möglichkeit. Damit sich dies SELBST entwickeln und differenzieren kann, ist die Unterscheidung erforderlich. Die Unterscheidung zwischen SELBST und NICHT-SELBST, also dem Gegenüber. Durch diese Unterscheidung entsteht eine GRENZE zwischen SELBST und NICHT-SELBST. Und diese Grenze macht den eigenen IDENTITÄTS-RAUM sichtbar. Wenn ich meine Kraft „gesund“ einsetze indem ich dem Gegenüber diese GRENZE zeige – durch ABGRENZUNG – dann wird dadurch deutlich: In diesem RAUM bin nur ich zuständig, in diesen RAUM gehört nur das hinein, was ich bin, also mein SELBST. Das ermöglicht mir, mit mir selbst identisch zu sein (eigene Identität) und mich nach eigenen Bedürfnissen und Überzeugungen zu orientieren. So wird Selbst-Bestimmung (Autonomie) möglich. Das ist aber auch die Voraussetzung für eine ICH-DU-Begegnung, für einen Kontakt zweier erwachsener selbst-bestimmter Personen. Ohne diese Grenze jedoch verwechselt der Klient Eigenes mit Fremden. Die Folge: Er fühlt sich in fremdem Raum zuständig, glaubt dort bestimmte Rollen übernehmen zu müssen – z.B. „Kapitän auf dem falschen Boot“. Gleichzeitig überlässt er dem Gegenüber den eigenen Raum, orientiert sich mehr am Gegenüber als an seinem eigenen Selbst. Beide Aspekte wirken in Richtung Identifizierung mit Fremdem - statt mit dem SELBST, und Abgrenzung gegenüber dem eigenen SELBST – statt gegenüber dem Fremden. Zusammen bewirken diese Aspekte eine Entfremdung zum SELBST, bisweilen bis zur völligen Abspaltung. Dies Muster könnte man als SYMBIOSE-KOMPLEX bezeichnen. Hinzu kommt eine weitere GRENZE auf der ZEITACHSE. Die Betroffenen hängen noch an Altem, das schon lange vorbei ist. Das nimmt ihnen Kraft und hindert sie daran, ganz im HIER und JETZT zu sein.
Aufstellungsprozess von Margarete
Margarete (M) nimmt einen Stuhl als Repräsentanten für den (vermuteten) verstorbenen Bruder (Br) und stellt ihn direkt vor sich. Auch für ihr SELBST – das sich auch ohne den Bruder vollständig fühlt – nimmt sie als Repräsentanten ein rotes Meditationskissen auf einem Stuhl und stellt ihn weiter weg. Dieser Teil ihrer Person ist ihr bisher unbekannt, sozusagen noch nicht benutzt (im Jargon „noch originalverpackt“).
1. FEHLENDE GRENZE, EIGENER RAUM und IDENTIFIZIERUNG Der Leiter legt einen Schal zwischen M und Br: „Theoretisch bist du vollständig ohne ihn – und er ist vollständig ohne dich. Dann könnte es eine Grenze geben zwischen Dir und ihm. Dann könnte dein RAUM spürbar werden, in dem nur du zuständig bist, in den nur das gehört, was wirklich M ist (IDENTITÄTS-RAUM). Wie ist das für dich?“ Für M ist das rational nachvollziehbar, für ihr Gefühl aber zunächst schmerzlich, so als sei sie nun abgeschnitten von ihrem Bruder – und er von ihr. Es wird ihr bewusst, dass sie bisher mit dem Br in einem „gemeinsamen Raum“ war, ohne Grenze, so als gehöre der Br zu ihrer Identität, so als sei sie nur mit dem Br zusammen vollständig. Das erklärt die fehlende Abgrenzung und den Verlust ihres SELBST in der Begegnung mit anderen Menschen. Mit ihrem VERSTAND kann sie erkennen, dass die Grenze wichtig ist – auch wenn ihr GEFÜHL bei diesem Thema verwirrt ist.
HYPOTHESEN ZUR DYNAMIK 1 M hat die anfängliche ungetrennte Verbindung mit Br und die darauf folgende schmerzliche Trennung von ihm – in ihrem Körpergedächtnis? - gespeichert. Für ihr Gefühl ist sie nur vollständig mit diesem Zwillingsbruder. Er ist ihr wichtiger als ihr SELBST – das sie noch gar nicht kennen lernen konnte. Entwicklungsgeschichtlich beginnt die Unterscheidung zwischen dem – sich entwickelnden – SELBST und einem Gegenüber bereits kurz nach der Geburt und wird mit der Pubertät abgeschlossen – theoretisch! Davor – und hier handelt es sich ja um die ersten 6-12 Schangerschaftswochen! - ist die Unterscheidung zwischen SELBST und NICHT-SELBST noch gar nicht möglich. In diesem Zustand wäre ein ABSCHIED von dem Bruder verbunden mit dem Verlust des Eigenen (ANLAGE DES SELBST). Daher war ein Abschied in dieser frühen Entwicklungsphase - d.h. vor der Unterscheidung (Grenze) von SELBST und NICHT-SELBST - gar nicht möglich. Das Aufrechterhalten der ursprünglichen Verbindung (Verschmelzung) mit dem Bruder kann als IDENTIFIZIERUNG bezeichnet werden. Diese Identifizierung bietet die ILLUSION, noch mit dem Bruder verbunden zu sein, der schon lange gestorben ist. Der Preis für diese Illusion ist jedoch die Blockade der Abgrenzung, die fehlende Entwicklung eines eigenen RAUMS und damit auch einer Verbindung zum SELBST. Es scheint, dass dieses frühe VERLUST-TRAUMA zu einem typischen BEZIEHUNGSMUSTER geführt hat, das gekennzeichnet durch die Tendenz zur Identifizierung mit dem Gegenüber und Verlust der SELBST-Verbindung. Dies Muster kann als SYMBIOSEMUSTER bezeichnet werden. Ihm entspricht eine symbiotische Persönlichkeits-Struktur, die erfahrungsgemäss alle späteren Beziehungen prägt.
2. ZUSTÄNDIG IM FREMDEN RAUM? Als nächstes „testet“ M ob sie sich auf dem Platz von Br „zuständig“ fühlt – der nicht in der Familie und nicht im Leben angekommen ist, und sich jetzt in einer „anderen Welt“ befindet. Sie „kennt“ diesen Platz, ja sie fühlt sich da besser, vertrauter als auf ihrem eigenen Platz. Sie erkennt, dass dieses Gefühl sie daran hindert, sich auf ihrem eigenen Platz „im Leben“ zuhause zu fühlen. Auch wenn es sich wie Verrat anfühlt, sie entscheidet sich dazu, auf ihren eigenen Platz zu gehen. Auch die „klärenden Sätze“ zum Br sind für sie schmerzhaft: „Du bist du und ich bin ich. Du bist deinen Weg gegangen und ich gehe meinen Weg. Und mein Weg ist ganz anders als deiner.“ Dieser Schmerz gehört zu dem jetzt anstehenden Abschied, und er macht deutlich, dass sie sich bisher von diesem Bruder nicht verabschieden konnte.
HYPOTHESE ZUR DYNAMIK 2 Diese Dynamik 2 „Zuständig im fremden Raum?“ ist ein Aspekt von IDENTIFIZIERUNG mit einem anderen. Der Zusammenhang mit der Dynamik 1 FEHLENDE GRENZE wird deutlich.
3. Der Bruder als INTROJEKT? Als nächstes „testet“ M, ob sie den Bruder als „blinden Passagier“ in ihren Raum genommen hat. Diese nahe Verbindung zu etwas Lieben, Vertrautem ist ihr bekannt. Es gibt ihr zwar das Gefühl von Vollständigkeit, aber es fühlt sich zugleich auch fremd an und tot – nicht lebendig. Und dies „Introjekt“ hat sie bisher an der Verbindung zu ihrem SELBST gehindert. Es wirkt wie ein „Trojaner“. Sie kann sich jetzt entscheiden, ob sie – wie bisher – sich an ihrem verwirrten Gefühl orientiert, oder an ihrem Verstand. Und sie entscheidet sich für den Verstand: „Bei aller Liebe, du gehörst nicht in meinen Raum. Und schon gar nicht auf den Platz von meinem SELBST!“ Danach hat sie das Gefühl, dass ihr etwas Wichtiges fehlt. Zum ersten Mal streift ihr Blick ihr SELBST, das lebendig sein kann, und das eigentlich zu ihr gehört.
HYPOTHESE ZUR DYNAMIK 3 Auch diese Dynamik „der verstorbene Bruder als Introjekt“ ergibt sich aus dem Phänomen einer Identifizierung mit dem Anderen.
4. ZURÜCK GEBEN DES FREMDEN SCHICKSALS Als nächstes bekommt M vom Leiter einen schweren Kieselstein in die Hände gelegt: „Das ist das Schicksal deines Bruders: er hat keinen Platz in der Familie und nicht im Leben gefunden. Er befindet sich in einer anderen Welt. Und das Thema Tod gehört dazu. Kann es sein, dass du diese Themen trägst, als wären es deine eigenen? Und kannst du sehen, dass sie eigentlich nicht zu deiner Biografie gehören – sondern zu deinem Bruder? Dann hättest du sie ihm „gestohlen“ und müsstest sie ihm wieder zurück geben!“ M kann dem Bruder sein Schicksal zurückgeben. Es fühlt sich zwar egoistisch an, für ihren Verstand ist es jedoch sehr befreiend. Der Leiter – am Platz des Br – nimmt den Stein und sagt ihr: „M das ist mein Schicksal. Ich habe mich damit abgefunden und könnte schon längst meinen Frieden haben. Aber es tut mir gar nicht gut, wenn du dich da einmischt! Bitte lass die Finger davon!“
HYPOTHESEN ZUR DYNAMIK 4 Auch hier haben wir einen zusätzlichen Aspekt der IDENTIFIZIERUNG mit dem Schicksal des verlorenen Zwillings. Die Analyse zeigt eine komplexe Verwirrung, die sich durch die Kombination von Identifizierung und Projektion ergibt. Das Schicksal des verlorenen Zwillings – sein früher Tod – ist schon lange vorbei. Sie scheint sich jeden Tag damit zu identifizieren. Und dies sich akkumulierende Leid – das nicht real ist, sondern imaginiert - projiziert sie auf den Zwilling – so als wäre es sein Leid. Und dies Leid wiederum übernimmt sie, als sei sie dadurch mit dem verstorbenen Bruder verbunden, dass sie sein Leid „teilt“? Das schafft so etwas wie die Illusion eines heimlichen Treue-Bündnisses – gegen den Rest der Welt. Für die Lösung dieses illusionären Treuebündnisses mit dem verstorbenen Bruder ist dann die Antwort des Bruders hilfreich: für mich ist das kein Problem, aber es tut mir überhaupt nicht gut, wenn du dich da einmischst.
5. ANNÄHERUNG AN DAS EIGENE SELBST Als nächstes stellt der Leiter M ihr eigenes SELBST vor. M erschien dieses SELBST unbekannt und zunächst auch bedrohlich. Aber durch die bisherigen Schritte fühlt sie sich freier und sie ist neugierig geworden auf „die Margarete, die sich vollständig fühlt ohne den Bruder, die sich abgrenzen kann – ohne Schuldgefühle – und die ihren Wert hat, unabhängig von Leistung, einfach dadurch, dass sie DA IST.“ „Statt mit dem verstorbenen Bruder eins zu sein, könntest du doch einmal „probeverschmelzen“ mit der M, die du eigentlich schon immer hättest sein können?“ Margarete probiert es, zunächst zögernd, dann immer beherzter. Ein zaghaftes Lächeln huscht – zum ersten mal! - über ihr Gesicht.
HYPOTHESE ZU DYNAMIK 5: Annäherung an das eigene SELBST. Infolge der Identifizierung mit dem verstorbenen Zwilling erlebte M ihre eigene Lebendigkeit und Lebensfreude (ihr SELBST ) als bedrohlich, als gefährlich, so als würde sie dadurch dem verstorbenen Bruder untreu. Durch die bisherigen Lösungsschritte hat sich die zunächst ablehnende Haltung zu ihrem SELBST bereits geändert.
6. ABRENZUNGSRITUAL GEGENÜBER DEM VERSTORBENEN BRUDER Leiter: „Damit die Verbindung zum eigenen Selbst noch besser wird, ist es wichtig, dass du genau unterscheidest zwischen Margarete und dem was nicht Margarete ist, in diesem Fall deinem verstorbenen Bruder. Auf der symbolischen Ebene der Aufstellung kannst du das jetzt zeigen. Ich vertrete den verstorbenen Bruder und versuche in deinen Raum zu kommen – wo du mir bisher einen Platz gegeben hast. Und du kannst mich jetzt mit Körpereinsatz an der Grenze (Schal) stoppen.“ Margarete stutzt zunächst, dann stimmt sie zu. Der Leiter kommt auf sie zu und sie bleibt wie angewurzelt stehen und stammelt ein halbherziges „Stop“. So wird ihr bewusst, dass auch hier ihr Gefühl verwirrt ist. Und sie entscheidet sich, ihrem Verstand zu folgen, für den Abgrenzung ganz in Ordnung ist. Beim zweiten Mal stoppt sie den Leider kraftvoll an der Grenze. Der Leiter: „Du hast die Kraft und du hast das Recht dazu, deine Grenze zu schützen. Das ist so etwas wie ein „gesunder Schutzreflex“. Wenn das funktioniert, dann weisst du IMMER, wer du bist – und wer nicht! Wo du zuständig bist – und wo nicht! Dann bist du IMMER orientiert und handlungsfähig. Wenn dieser Reflex nur schwach ist, dann kann es sein, dass du Eigenes und Fremdes verwechselst. Dann verlierst du die Orientierung.“ M nickt zustimmend. Und sie wiederholt die Abgrenzung, nun verbunden mit einen Tigerschrei – so wie ein Tiger sein Revier gegenüber Artgenossen verteidigt. Nachdem sie in dieser Weise ihren RAUM frei gemacht hat, überprüft sie noch einmal ihre Verbindung zur ihrem SELBST. Zu ihrem Erstaunen stellt sie fest, dass diese Verbindung durch die Abgrenzung viel besser geworden ist.
HYPOTHESE ZUR DYNAMIK 6 Solange M sich nur durch die illusionäre Verbindung mit dem Zwilling vollständig fühlte, musste sie die Trennung vom Zwilling als existenzbedrohlich erleben. Sich selber ihm gegenüber abzugrenzen war für sie wie Verrat und unvorstellbar. Das frühe Verlust-Trauma hatte also wie eine Konditionierung gewirkt, und ein Abgrenzungsverbot verursacht. Dies – unbewusste - Abgrenzungsverbot hielt einmal die Identifizierung mit dem Zwilling aufrecht und verhinderte zum anderen die Verbindung mit dem SELBST. Manche Hirnforscher (Roth) vertreten die Ansicht, dass eine derartige Konditionierung nicht mehr aufgelöst werden kann, auch nicht durch Therapie. Meine Erfahrung ist da anders. Wenn der Klient sich in einer derartigen Situation nicht nach seinem verwirrten Gefühl orientiert, sondern nach seinem Verstand, und das Gefühl von Schuld und Verrat aushält, dann kann er diese Konditionierung lösen. Bisweilen allerdings bedarf es dazu eines zweiten oder auch dritten Anlaufs.
7. „GEGENABGRENZUNG“ Margarete erlebt nun, dass der Bruder – vertreten durch den Leiter – sich ihr gegenüber abgrenzt, als sie – wie gewohnt – in seinen Raum geht, in dem sie sich ja mehr zuhause fühlte als im eigenen Raum. Und nun wird sie gestoppt, an der Grenze. Das erlebt sie als verletzend, als kränkend, als ungerecht, als Verrat. Auch diese Gefühlsverwirrung ist durch die Konditionierung infolge des Verlusttraumas entstanden. M kennt die schmerzliche Erfahrung, dass sie sich bei anderen in bester Absicht engagiert, und eine Ablehnung als kränkend erlebt. Weil ihr das so weh tut, meidet sie vielleicht starke Partner und fühlt sich angezogen von Menschen, die sich nicht so gut abgrenzen können. Zum Beispiel von einem lebenden Partner: weil er selber traumatisiert ist. Oder von dem verstorbenen Bruder, weil der sich gar nicht mehr abgrenzen kann. So entsteht gegenseitige Abhängigkeit, und das kennt sie von ihren bisherigen Beziehungen. Leiter: „Du bist stark, und du könntest auch starke Partner haben, wenn du lernst das sportlich zu sehen. Dein Partner ist auch ein Tiger und er hat das gleiche Recht, sein Territorium zu schützen wie du. Sollen wir dich „fit“ machen für einen starken Partner?“ M stutzt einen Augenblick und dann stimmt sie zu. Sie kommt – wie gewohnt – in den Raum des Gegenüber und nun wird sie vom Leiter gestoppt: “Ich bin auch ein Tiger! Wir Tiger machen das so! Das sind unsere Spielregeln!“ Und beim zweiten Mal: Du könntest in der „Tiger-Liga mitmachen, wenn du diese Spielregeln akzeptierst!“ Und beim dritten Mal: „Wenn wir beide uns dir Grenze zeigen und die des anderen respektieren, dann können wir uns auf Augenhöhe begegnen!“
HYPOTHESE 7 Die erhöhte Kränkbarkeit durch die Abgrenzung des Gegenübers entspricht dem Abgrenzungsverbot. Beide sind Folge der Konditionierung durch das Trauma und beide verstärken sich gegenseitig! Wenn ich die Abgrenzung meines Gegenübers als verletzend erlebe, dann bremst das meine Bereitschaft, mich meinerseits abzugrenzen – und umgekehrt. Beides erschwert dem Betroffenen eine Beziehung zu Erwachsenen auf Augenhöhe. Denn dazu bedarf es der Fähigkeit beider, sich abzugrenzen und die Grenzen des Anderen zu respektieren. Das führt oft zu sozialem Rückzug, und fördert symbiotische Beziehungen.
8. ABGRENZUNG AUF DER ZEITLINIE Margarete ist so mit dem Zwilling verbunden, als wäre er noch heute existent. Dies Festhalten an Ereignissen der Vergangenheit ist – besonders bei früher Traumatisierung - sehr verbreitet, und kostet die Betroffenen sehr viel Energie. Und es hindert sie daran, ganz im HIER UND JETZT zu sein. Das Loslassen des Vergangenen ist schwer, der bloße Appell ändert nicht viel. Daher beziehe ich die Abgrenzung auf der Zeitlinie in den Lösungsprozess mit ein. Margarete geht symbolisch auf einer Zeitlinie zurück in die Vergangenheit, und der Leiter stoppt sie mit dem Satz: „Stopp! Es gibt kein Zurück. Was vorbei ist, ist vorbei!“ Sie ist zunächst erstaunt, das Vergangene ist ihr so vertraut, so nahe, mehr als die Gegenwart. Der Leiter: „Darauf zu verzichten ist wie Abschied – und Abschied nehmen tut weh, Aber es ist ein gesunder Schmerz. Wenn man da durchgeht, öffnet sich die Türe für das Hier und Jetzt!“ Und sie macht noch zweimal diese körperliche Erfahrung: Vorbei ist vorbei!
HYPOTHESE 8 Für die Abgrenzung zur Vergangenheit ist die Unterscheidung zwischen Heute und Gestern erforderlich. Durch eine frühe Traumatisierung wird diese Unterscheidung, wird das innere „Zeitgitter“ gestört. Die hier beschriebene körperliche Erfahrung einer Grenze auf der symbolischen Ebene der Aufstellung wirkt wie einer erneute Konditionierung des Zeitgitters.
9. DEN ZWILLING VERABSCHIEDEN Nachdem durch den bisherigen Abgrenzungsprozess die verschiedenen Aspekte der Verschmelzung mit dem Zwilling gelöst sind, bietet sich die Gelegenheit, dass sich M von dem Zwillingsbruder verabschiedet – ohne sich selbst dabei zu verlieren! Der Leiter greift dabei auf eine alte Vorstellung zurück, dass es für die Verstorbenen einen guten Platz gibt, wo sie ihren Frieden finden. Wenn aber Angehörige sich nicht verabschieden können, dann halten sie dadurch den Verstorbenen fest. Dann kann der Verstorbene nicht seinen Frieden finden – und sie selber finden nicht ihren Platz im Leben. Eine „Lose-Lose-Situation“. Nach dieser Erklärung ist Margarete bereit, den Zwillingsbruder los zu lassen. „Vielleicht habe ich dich – unbewusst – durch mein eigenes Leiden in deinem Leiden festgehalten. Eigentlich ist es für dich schon lange vorbei. Ich muss dich nicht mehr festhalten. Du darfst jetzt dahin gehen, wo du deinen Frieden findest!“
HYPOTHESE 9 Dieser Abschied schließt die Abgrenzung auf der Zeitlinie ab. Der verstorbene Zwillingsbruder wird sozusagen in eine andere Wirklichkeits-Ebene entlassen. Dadurch wird deutlich: Wenn er in der Alltagsrealität nicht mehr präsent ist, dann kann er auch nicht mehr den Platz von M‘s Selbst einnehmen. Dem vermeintlichen Loyalitätskonflikt - zwischen Zwillingsbruder und Selbst - ist dann die Grundlage entzogen.
Rückmeldung Margarete Die Erklärungen sind für mich sehr einleuchtend. Vor allem die Beschreibung, warum sich das eigene Selbst dann nicht richtig entwickeln kann und die Auswirkungen dieses Dramas auf die Beziehungen. Irgendwie ist es auch schmerzlich, wenn man erfährt, dass man solange eigentlich nicht bei sich selbst war - was hätte man sonst vielleicht im Leben getan bisher? Ein bisschen wie Betrug.... Andererseits bin ich auch der festen Überzeugung, dass jeder seinen Weg hat, den er gehen muss. Und dass man erst an bestimmte Punkte gelangt, wenn man reif dafür ist. Das Schicksal (oder was auch immer) führt einen dann schon an die richtigen Adressen. Ich musste wohl erst einmal durch R. (Partner) richtig spüren, wie es mir immer schlechter ging und sich das nicht gesund anfühlt. Wie ich mich verliere und mich so abhängig fühle. Die Aufstellungen sind gut für mich. Das merke ich jetzt schon. (Auch R. merkt es). Durch das aktive Tun habe ich das Gefühl, dass alte Muster besser durchbrochen werden können. Ich bin natürlich jetzt kein anderer Mensch deswegen oder völlig geheilt, aber auf einem guten Weg. Vielen Dank, so über sich selbst zu lesen ist eigenartig, aber auch ganz interessant.
Zusammenfassung Der frühe Verlust eines Zwillings in einer frühen Phase, in der ein Abschiednehmen noch nicht möglich ist, kann häufig die Fähigkeit zu Abgrenzung und Selbst-Verbindung blockieren und damit die Entwicklung von Selbstbestimmung (Autonomie). Das prägt alle späteren Beziehungen: zu den Eltern, zu den Geschwistern, zum Partner und zu den Kindern. Und zur Arbeit (Burnout). Dieser Verlust wirkt wie ein Trauma und konditioniert die Betroffenen. Die unterschiedlichen Aspekte dieser Konditionierung verstärken sich zum Teil gegenseitig und bilden zusammen ein Geflecht der Verwirrung, das nur schwer zu lösen ist. Das Konzept der systemischen Selbst-Integration ist in der Lage, diese unterschiedlichen Aspekte dem Klienten bewusst zu machen, sodass er sie lösen kann. München 29.1.2017