Anlass für diese Überlegungen ist die anstehende Evaluation der SITA. Es gibt Fragebögen, die traumatische Lebens-Events abfragen, z.B. der LEC-5. Aus meiner Sicht ist er jedoch nicht zweckdienlich – zum Beispiel erwähnt er nicht die häufigen übernommenen Traumata – und scheint daher für die Studie entbehrlich. Das gibt Anlass das Traumaverständnis der SITA zu reflektieren und einen daraus abgeleiteten Katalog der eigenen – und übernommenen – Traumata vorzustellen.
Das Trauma-Verständnis der SSI und SITA Eine frühe schmerzhafte Erfahrung wird häufig – irrtümlich – als „Ich-synton“ im Gedächtnis gespeichert. So wird sie zu einem toxischen Trauma-Introjekt. Durch das Speichern des Trauma-Introjektes und die damit verbundene Unvereinbarkeit von Trauma und Selbst (Inkompatibilität) wird • das eigene Selbst von seinem zentralen Platz als Orientierung verdrängt (Selbst-Entfremdung), • Die Unterscheidung Ich—Nicht-Ich und damit die Abgrenzung ist geschwächt, • Das aggressive Potential kann nicht mehr konstruktiv eingesetzt werden, im Abgrenzen und sich schützen gegeüber Fremden und im Verfolgen eigener Ziele, sondern es richtet sich destruktiv gegen das Selbst – und gegen andere. Das heisst, der Organismus reagiert auf das gespeicherte Ich-fremde Trauma-Introjekt mit Stress und mit der Entwicklung eines Symbiosemusters. Das führt jedoch zu weiteren Traumata („Stressornetzwerk“). Das Prinzip der Selbst-integrierenden Trauma-Aufstellung besteht darin, das toxische Trauma-Introjekt als Ich-fremd zu erkennen. Dann zeigt es sich, dass die Selbstanteile durch das Trauma nicht verletzt worden sind, sie sind buchstäblich unverlierbar und unzerstörbar – und nur verdrängt . Wird das toxische Trauma-Introjekt – und evtl. auch das daran gekoppelte Introjekt des Täters – entfernt, dann erweisen sich auch die Trauma-Folgestörungen als reversibel. Zentral ist es daher, die – traumabedingt gestörte – Unterscheidung zwischen Ich und dem Ich-inkompatiblen wieder zu stärken. Es gibt Therapieverfahren, die ein anderes Konzept vertreten und z.B. ein Täterintrojekt – in Form eines inneren Saboteur, oder eines inneren Richters – als Inneren Anteil verstehen, der integriert werden muss. In seinem Aufsatz „Die Arbeit mit dem inneren Richter“(Hensel 2014) versteht Thomas Hensel diesen Anteil auch als Ich-inkompatibel, bezeichnet es allerdings als „malignes Über-Ich“ – und nicht als Täterintrojekt. Er betont jedoch zurecht die Chance der Traumatherapie, der Klient*in die Ich-Inkompatibilität dieses Anteils bewusst zu machen, und ihr zu zeigen, wie sie diesen verinnerlichten Anteil extermalisieren kann, und sich dann schrittweise immer besser gegen diesen Anteil wehren kann, durch Imagination. Dadurch lösen sich auch die Traumafolgestörungen wie negatives Selbstbild („ich bin ein Verlierer“) und das Gefühl, ohnmächtig zu sein, keine Kontrolle zu haben. Die Sichtweise, dass ein im Gedächtnis gespeichertes Trauma-Introjekt reversibel ist, wird durch die Ergebnisse der neueren Gedächtnisforschung bestätigt: die Gedächtnissrekonsolidierung besagt, dass auch ein frühes Trauma bis ins hohe Alter noch gelöscht werden kann durch eine genau definierbare Lösungsstrategie: den Lösungs-Algorithmus (Hensel 2017).
Trauma-Anamnese Ich selber verwende keine Trauma-Fragebögen. Mit Hilfe des Formates „Blockierendes Element“ ist es eigentlich immer möglich, ausgehend von einem konkreten Gesundheits-Problem, für eine Klient*in das Trauma bewusst zu machen und zu bearbeiten, das für dies aktuelle Problem verantwortlich ist. Dabei taucht oft eine schmerzliche Erfahrung auf, die die Klient*in entweder gar nicht als Trauma bewusst war, oder die sie selber nicht mit dem aktuellen Problem in Verbindung gebracht hätte. Die Fülle der möglichen Traumata versuche ich hier in eine systematische Ordnung zu bringen. Es widerstrebt mir, eine – bereits traumatisierte – Klient*in durch das Abfragen dieses Katalogs zusätzlich belasten. Aber für Trauma-Therapeut*innen ist es wichtig, die traumatische Relevanz dieser Ereignisse zu kennen. Daher folgt hier ein
KATALOG EIGENER UND ÜBERNOMMENER TRAUMATA
A EIGENE TRAUMA-ERFAHRUNGEN
I. Vorgeburtliche Trauma-Erfahrungen (Während der Schwangerschaft. I.1. Abtreibungsversuch durch die Mutter Mutters traumatische Erfahrungen während der Schwangerschaft: I.2. Gewalt, I.3. Verlust des Partners oder eines Elternteils.
II Trauma-Erfahrungen des Neugeborenen und Kleinkindes II.1. seelischer Gewalt: Unerwünscht, „falsches“ Geschlecht II.2. körperlicher Gewalt: Kaiserschnitt, frühe Operationen, Spreizhosenbehandlung etc., sexueller Gewalt: früher Missbrauch.
III. Trauma-Erfahrungen als Kind und Jugendliche III.1 Verlusterfahrungen: III.1.1. Verlust des Vaters (durch Trennung oder Tod) (zugleich auch Mutters Trauma!), III.1.2. frühe Trennung von der Mutter durch eigene Klinikbehandlung Tod der Mutter im Kindbett, Verschwinden der Mutter, Abgegeben werden zur Pflege oder Adoption III.1.3. Verlust eines Geschwisters – auch ungeboren: Abgang, Abtreibung, Totgeburt, verlorener Zwilling III.1.4. Verlust einer wichtigen Bezugsperson durch Tod oder Trennung
III.2.Erfahrungen von seelischer, körperlicher oder sexueller Gewalt
Die selbst-integrierende Trauma-Aufstellung zeigt regelmässig: Auch real präsente Eltern können emotional nicht erreichbar sein, meist weil sie selber traumatisiert sind – durch frühe Erfahrungen von Gewalt, durch Erfahrungen von realer oder emotionaler Verlassenheit und Überforderung. Sie sind nicht in der Lage, die emotionalen Bedürfnisse des Kindes empathisch wahrzunehmen und zu erfüllen. Sie fühlen sich überfordert und reagieren mit Rückzug oder Gewalt. Zugleich haben sie nicht gelernt, erwachsen für ihre eigenen Bedürfnisse zu sorgen. Sie sind selber bedürftig und erwarten unbewusst vom Kind , dass es ihre Bedürfnisse (nach Zuwendung, Anerkennung, Bestätigung, körperlicher Nähe, evtl. auch Sexualität) erfüllt. Das ist die Ursache trauatischer Erfahrungen eines Kindes: III.2.1. emotionaler Verlassenheit, Vernachlässigung: III.2.2. Abwertung, Schuldzuweisungen: III 2.3. emotionaler Missbrauch und Überforderung: III.2.4. körperliche Gewalt III.2.5. sexuellem Missbrauch.
B Übernommene Trauma-Erfahrungen Exkurs. Trauma als illusionäre Bindung Durch die systemische Sichtweise der SITA werden folgende Phänomene deutlich: Wenn Eltern emotional nicht erreichbar sind, dann entsteht manchmal eine illusionäre Verbindung zu diesem Elternteil durch das eigene Gewalt- Verlassenheits- und/oder Überforderungstrauma, welches die Klient*in durch Mutter/Vater erfahren hat. Zugleich ist der Klient*in aber auch das Überforderungs- und Verlassenheitstrauma des Elternteils sehr vertraut, so als sei sie dafür verantwortlich, so als gehöre das zu ihrer Zuständigkeit, zu ihrer Identität. Dann übernimmt sie auch dies Trauma als Introjekt. Das heisst, die Betroffenen haben dann nicht nur das eigene Trauma als ich-inkompatibles Trauma-Introjekt gespeichert, sondern auch noch den Elternteil und zusätzlich auch noch dessen Trauma. So entsteht ein ganzes Konglomerat von Introjekten – die nur als Ganzes entfernt werden können. Bei emotional unerreichbaren Eltern scheint paradoxerweise das eigene von den Eltern erlebte Trauma die einzige (illusionäre) Verbindung zu diesem traumatisierten Elternteil zu ermöglichen. Das eigene Trauma wird dann so etwas wie eine „Clubkarte“, die erforderlich ist, um sich diesen Eltern zugehörig zu fühlen. Das eigene Trauma stiftet so eine makabre Loyaltiätsbindung zu dem – anders nicht erreichbarem – Elternteil. Diese Hypothese wird regelmässig dadurch bestätigt, dass eine Klient*in das „Loslassen“ des eigenen Traumas paradoxerweise als „Verrat“ an dem Elternteil erlebt, als würde sie durch das Loslassen des eigenen Traumas die – einzige? - Verbindung zu diesem Elternteil verlieren. So als verlöre sie das Recht auf Zugehörigkeit zu diesem traumatisierten Familiensystem. Sehr traumatisierte Familien entwickeln häufig ein kollektives Symbiosemuster. (Symbiotisches Kollektiv). Traumata – und Krankheiten – werden dann unbewusst von der nächsten Generation übernommen, klaglos, so als gehöre das zu dem Schicksal der Familie, der man sich erst dadurch zugehörig fühlen darf. Diese unbewusste Loyalitätsbindung zur Familie erschwert dem Einzelnen, sich vom übernommenen Trauma zu distanzieren, so als dürfe er dann nicht mehr zu diesem (traumatisierten) System dazu gehören. Das bewusste Abgrenzen und Loslassen dieser übernommenen „Trauma-Konglomerate“ erfordert grosse Klarheit und Kraft – und Unterstützung z.B. durch einen Therapeuten. Dann wird der Weg zum eigenen Selbst frei.
Katalog der übernommenen (fremden) Traumata Das Verständnis dieser Dynamik bringt uns dazu, auch die Traumata der Eltern als relevant zu berücksichtigen, da sie auf die Klient*in einwirken. Indirekt dadurch, dass die Eltern emotional nicht zugewandt sein können (Ursache für Verlassenheits und Überforderungstrauma) oder direkt, indem diese fremden Traumata unbewusst und irrtümlich als Ich-syntones Trauma-Introjekt übernommen und gespeichert werden. Im Einzelnen handelt es sich um folgende traumatische Ereignisse. Sie betreffen:
Mutter oder Vater, oder auch deren Eltern (selten auch deren Geschwister). Es handelt sich dabei um • Verlusterfahrung: eines Geschwisters oder eines Elternteils; der Heimat (Flucht, Vertreibung) • Gewalterfahrung (körperlich, seelisch, sexuell) • Emotionales Verlassensein – durch traumatisierte Eltern. • Schuld:
Wenn sich ein Eltern-oder Grosselternteil hat als Täter schuldig gemacht hat (z.B. Nazi-Angehörige) oder selber Opfer wurde (Jüdische Schicksale, Kommunisten, Zigeuner, Euthanasie wegen angeblich „lebensunwerten Lebens“), dann neigen Kinder dazu – besonders wenn sie bereits traumatisiert sind – sich mit diesen fremden Traumata unbewusst zu identifizieren. Bisweilen geschieht das so intensiv, dass ihr Leben wie eine Kopie eines früheren Schickals erscheint. Selbst-integrierende Trauma-Aufstellung macht es möglich, diese übernommenen Trauma-Introjekte als ich-fremd zu erkennen, und mit Hilfe des Lösungs-Algorithmus zu entfernen und abzugrenzen. Dann wird wieder Selbst-Verbindung möglich, und die kompensatorisch entwickelten Trauma-Folgestörungen können sich wieder zurück bilden, meistens spontan.
München 3.10.2019 Ero Langlotz __________________________________ Hensel T. (2014) Hensel, T. „Der Kampf mit dem innerern Richter. Ich-Stärkung durch Distanzierung von Symptomen und malignen Über-Ich-Attacken." In Priebe & Dryer (2014). Metaphern, Geschichten und Symbole in der Traumatherapie. Hogrefe: Göttingen. Hensel,T. (2017) Sressorbasierte Psychotherapie. Belastungssymptome wirksam transformieren - ein integrativer Ansatz. Stuttgart: Kohlhammer.