„Wer bin ich?“ Diese Frage ist so alt wie die Menschheit und ist in verschiedenen Zeiten und Kulturen auf die unterschiedlichsten Arten und Weisen beantwortet worden. Auch in der Arbeit mit der Systemischen Selbstintegration nimmt sie eine zentrale Stellung ein.
Hier gehen wir davon aus, dass wir diese Frage in dem Moment ganz intuitiv für uns beantworten können, wenn wir mit unserem „Selbst“ in Kontakt sind. Dieses Selbst ist das innerste Potential eines Menschen. Es ist unzerstörbar und kann nicht verloren gehen. Das Selbst haben wir gewissermaßen als Geschenk der Natur, die uns hervorgebracht hat, die uns trägt und nährt. Das Selbst ist der Teil in uns, der weiß, dass er ein Teil dieses Größeren Ganzen ist. Es hat seinen Wert in sich, unabhängig davon, was jemand leistet oder ob er für andere nützlich ist. Das Selbst ist wie eine Rose, die ihren Wert allein dadurch hat, dass sie da ist .
Dabei tauch immer wieder die Frage auf, wie dieses „Selbst“ denn konzeptionell gefasst werden könnte. Grundsätzlich kann man sagen, dass die Sichtweise der SSI eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Selbstkonzept in der Tiefenpsychologie von C.G. Jungs hat. Für Jung ist das „Selbst“ das zentrale Organisationsprinzip der individuellen Persönlichkeit. Seinen Ausdruck findet das Selbst im Prozess der „Individuation“. „Individuation bedeutet: zum Einzelwesen werden, und, insofern wir unter Individualität unsere innerste, letzte und unvergleichbare Einzigartigkeit verstehen, zum eigenen Selbst werden. Man könnte ‚Individuation‘ darum auch als ‚Verselbstung‘ oder als ‚Selbstverwirklichung‘ übersetzen.“ (C. G. Jung: Gesammelte Werke. 7, § 266, 404.)
Jung versteht den Individuationsprozess als einen lebenslangen Prozess, in und durch den ein Mensch seine Persönlichkeit entfaltet. Es ist ein Prozess, der die innere Ganzheit einer Person – ihr Selbst – im ihrem äußeren Leben zum Ausdruck bringt. Dieser Prozess ist niemals abgeschlossen. Jeder Mensch ist fortlaufend mit neuen Erlebnissen, Herausforderungen und Entscheidungen konfrontiert, die ihn dazu anhalten, seine aktuelle Persönlichkeit zu transformieren und zu entfalten. Damit dies gelingen kann, braucht er den Kontakt zu seinem Selbst, welches – als Fluchtpunkt und Blaupause seiner Persönlichkeit – bereits alles Potential in sich enthält, welcher sich im Leben entfalten möchte. So entwickelt sich der Mensch im Laufe seiner Individuation immer mehr von dem, was man sein sollte, zu dem, was er ist.
Die symbolische Entsprechung für dieses Prinzip fand Jung in den Mandala-Symbolen, deren Existenz er in den unterschiedlichsten Kulturen und in den spontanen Zeichnungen seiner Klienten beobachtete. Ein Mandala ist eine geometrische Form – meist ein Kreis oder ein Viereck – bei dem mehrere, sich widerholende Elemente, Formen oder Muster harmonisch um einen gemeinsamen Mittelpunkt angeordnet sind. In seiner einfachsten Darstellung kann man das Mandala-Prinzip als einen Kreis mit einem Punkt in seiner Mitte darstellen. Der Kreis entspricht dann der sich entfaltenden Persönlichkeit. Der Punkt entspricht dem Selbst. Er ist das innere Zentrum von dem aus sich das Muster der Persönlichkeit entfaltet, und welcher in eingefalteter Form bereits alles in sich enthält, was sich im Außen entfalten möchte. Im Kreis wird das Potential, das im Punkt angelegt ist, nach Außen projiziert und kommt so im Leben zum Ausdruck: „Die Energie des zentralen Punkts manifestiert sich in dem fast unwiderstehlichen Drang, das zu werden, was man ist, so wie wie jeder Organismus in der Natur dahin drängt, seine eigene ganz spezifische Form anzunehmen – unabhängig von den Umständen, die ihm auferlegt sind.“ (Fincher, Creating Mandalas: For Insight, Healing, and Self-Expression, S.2)
Dieses Mandala-Prinzip spiegelt sich auch in den Aufstellungen mit der Systemischen Selbstintegration. So wie ein Mandala seine Schönheit nur in einem klar abgegrenzten Raum entfalten kann, bracht die menschliche Psyche offenbar einen klar differenzierten Raum für das eigene Selbst. Erst dann kann sich das Potential des Selbst vollkommen entfalten und die ganz individuelle Schönheit der eigenen Person in Erscheinung treten.