SSI, in der Form des Strukturtrainings ermöglicht ein neues tieferes Verständnis des Entwicklungstraumas. Auch die Dynamik der Transgenerationalen Weitergabe von Trauma und Spaltung wird verständlich – und kann durch geeignete Interventionen modifiziert werden. Philipp Kutzelmann beschreibt hier die Rolle des „falschen Selbst“ für die Entstehung des Entwicklungstraumas. In Kombination mit dem Nehmen der Liebe vom „wahren Selbst“ der Eltern erweist es sich als sehr hilfreich – besonders bei den hartnäckigen „psychiatrischen“ Störungen mit Tendenz zur Verschlimmerung.
Entwicklungstrauma- und die Rolle des falschen Selbst der Eltern Wie Ero im letzten Newsletter mitgeteilt hat, haben wir in den letzten Monaten die Erfahrung machen dürfen, dass der Schlüssel zu einer gesunden Abgrenzung zu den Eltern oft darin liegt, dass die KlientIn in der Aufstellung die Möglichkeit bekommt das wahre Selbst der Mutter und/oder des Vaters zu spüren. Zu diesem Zweck nimmt sie die Figur von „Mutters wahrem Selbst“ an ihr Herz und spürt dann, oft zum ersten Mal, wie es ist, wenn keine Probleme oder Hindernisse im Weg stehen, sondern wenn Mutters bedingungslose Liebe frei zu ihr fließen darf. Auch wenn sie real von dieser Mutter nie – oder nur selten – diese Liebe spüren konnte, durch diese Imagination macht sie die Erfahrung: Es gehört zu ihrem unverlierbaren Potential, dass sie Liebe empfangen kann und das sie Wert ist geliebt zu werden, um ihrer Selbst willen. Der Kern des eigenen Wesens wird "geweckt" – das ist die Grundlage für ein "intrinsisches Selbstwertgefühl". Danach ist die Abgrenzung von den Eltern oft ganz leicht – sie fühlt sich spielerisch und gesund an.
Daran lässt sich erkennen, dass es in einem Kind das tiefe Bedürfnis gibt den Eltern „von Selbst zu Selbst“ zu begegnen. Ein Kind sucht nach dem wahren Selbst der Mutter und des Vaters. Wahrscheinlich, weil es schon die Ahnung dieses Potentials in sich selbst spürt und sich wünscht, dass diese erkannt und mit Wertschätzung begrüßt wird. Von einem anderen Selbst, das ebenso einmalig ist wie das Eigene. Diese Sehnsucht ist wahrscheinlich auch der "Motor" für die verzweifelten Überlebensstrategien eines Kindes - Stellvertretung verlorener Personen, Übernehmen fremder Lasten, Anpassung an die Bedürfnisses anderer etc. – um so vielleicht doch noch die Liebe und Anerkennung der Eltern zu bekommen. Und sie ist der Motor für für die Tendenz, die belastete Mutter nicht loslassen zu können - so als habe das Kind noch nicht alles von ihr bekommen, als würde es sich um etwas Wertvolles bringen, wenn es die Mutter loslässt.
Denn leider ist diese Begegnung nicht immer ohne weiteres möglich. Oft sind die Eltern nicht mit dem eigenen, wahren Selbst in Kontakt. Das Kind begegnet dann nicht einer achtsamen und wohlwollenden Präsenz, sondern einer Frau, die – meist auf Grund von Traumatisierungen – in Überlebensmechanismen gefangen ist und die gelernt hat sich mehr an diesen und an den Erwartungen anderer zu orientieren als am eigenen Selbst. Und die oft von ihrem Kind das erwartet, was sie selbst als Kind nicht erleben konnte: Zuwendung, Bestärkung, Entlastung.
Statt Mutters „wahrem Selbst“ erlebt ein Kind dann (fast) nur Mutters falsches Selbst, dessen Handlungen und Verhaltensweisen von den emotionalen Wunden aus Mutters Vergangenheit bestimmt werden. Hilflos und abhängig von dieser Mutter passt sich das Kind an dieses „falsche Selbst“ der Mutter an. Die ganze Aufmerksamkeit ist bei der Mutter und bei deren Traumata. Das ist für das Überleben des Kindes wichtig, denn jedes Verhalten, dass diese Traumata wieder triggern könnte, versucht es zu vermeiden. Es lebt in einer Haltung der Kontrolle, des „Alles im Blick haben müssens“, des „für Alle verantwortlich zu sein“. Eine enorme Selbst-Überforderung die – notwendigerweise – immer wieder scheitert, so dass das Kind in einen ständigen Teufelskreis von Selbstüberschätzung und Selbsterniedrigung gerät.
Für ein Kind ist das extrem schmerzlich und wird oft als bedrohlich, verwirrend oder gar vernichtend erlebt. Dort wo es sich den Kontakt mit einer liebevollen und offenen Präsenz wünscht, begegnet es einer Fassade des falschen Selbst, dessen ganze Funktion darin besteht, zu überleben, wobei das Leiden der Vergangenheit gleichzeitig verschleiert und festgehalten wird. Doch nicht nur das: Die Begegnung mit Mutters falschem Selbst suggeriert dem Kind, dass auch sein wahres Selbst falsch ist – oder dass es gefährlich/falsch ist, wenn es sich mit dem wahren Selbst verbindet.
Dieses Dilemma lässt sich im Rahmen einer Aufstellung ganz einfach symbolisieren und erfahrbar machen, indem z.B.neben der Mutter noch das falsche Selbst der Mutter und Mutters Trauma aufgestellt werden. Dabei ergeben sich oft extrem aussagekräftige Bilder. So stellte ein Klient vom mir z.B. das falsche Selbst seiner Mutter direkt vor sich. Die eigenen Selbstanteile stellte er in die eine Ecke des Tisches, das wahre Selbst der Mutter stellt er in die Andere. Beim Hineinspüren in das Aufstellungsbild kam ihm dann eine Szene aus der Kindheit. Die Mutter hatte sich gerade wieder sehr irrational verhalten und das hatte ihm so Angst gemacht, dass er sich ganz unsichtbar machen musste. „Ich muss mich ganz und gar an dieses falsche Selbst anpassen – sonst passiert was Schlimmes. Und gleichzeitig habe ich eine Scheiss-Wut.“
Doch so schmerzlich diese Erkenntnis auch für ihn war, er konnte jetzt erkennen, was er als Kind noch nicht verstehen konnte. Ihm wurde klar, dass es das schwere Schicksal der Mutter war, welches sie ihr Leben lang hat funktionieren und aus dem falschen Selbst heraus handeln lassen. Und er konnte erkennen, dass Mutters Trauma kein Teil ihrer Identität ist – und dass es auch nicht in seinen Raum gehört. Dadurch konnte der Weg frei werden zu seinem eigenen wahren Selbst. Nachdem er Mutters wahres Selbst gespürt hatte, konnte er fühlen dass es Gesund und Heilsam ist, wenn er sich von Mutters „falschem Selbst“ schützt, indem er sich klar und deutlich Abgrenzt. „Da gehört diese Scheiss-Wut hin. Ich dachte immer ich hätte meine Mutter gehasst. Dabei habe ich nur gehasst, dass sie oft nicht ganz bei sich war.“ Durch diesen Lösungsprozess findet der Klient zum eigenen Selbst und kann die Mutter loslassen - mit Achtung und (bisweilen zum erstenmal!) auch mit Liebe! Dann ist es nicht länger die „Trauma-App“, die Verbindung durch das Trauma, welche die Generationen miteinander verbindet, sondern die Verbindung von „Selbst zu Selbst“. Oder: Statt Falschwährung (falsches Selbst) zurück zum Goldstandart. Philipp Kutzelmann