Hinweis: um gendergerecht zu schreiben, verwende ich einheitlich "die Klient*in", auch wenn es sich um einen Mann handelt.
VORBEMERKUNGEN ZUR METHODE Aufstellen mit farbigen Holzklötzchen Farbige Holzklötzchen haben gegenüber den üblichen bei Aufstellungen verwendeten Figuren grosse Vorteile. Ein Set von ca. 50 Klötzchen bietet vier verschiedene Farben und ca. 4-5 verschiedene Formen: Würfel, runde, eckige und schmale Klötzchen in unterschiedlichen Grössen. Diese Vielfalt ist erforderlich, um die komplexer gewordenen Elemente zu symbolisieren. Da es zentral um Struktur geht, sind die fehlenden Augen – die eine Blickrichtung ermöglichen – für das Strukturtraining unerheblich! Ganz im Gegenteil. Daher sind auch Playmobil-Figuren nicht so gut geeignet.
Aufstellungsarbeit und Struktur Seit fast 30 Jahren arbeite ich in meiner psychiatrischen Praxis mit Aufstellungen, um die Probleme meiner Klient*in besser verstehen zu können und gute Lösungen für sie zu finden. Durch geduldiges, liebevolles Einfühlen - bei gleichzeitiger gesunder Distanz! - ist es mir immer mehr gelungen, die inneren Vorgänge wahrzunehmen und zu beschreiben. Wie ein Naturforscher versuchte ich, die Logik und den verborgenen Sinn dieser Phänomene zu erfassen, mit den treffenden Worten zu beschreiben und dafür ein Modell zu finden, welches die beobachteten Gesetzmässigkeiten und Dynamiken verdeutlichen kann. So entstand nach und nach ein komplexes Konzept. Dessen innere Logik und Sinnhaftigkeit hatte einen grossen ästhetischen Reiz und eine innere Stimmigkeit. Mir ging es ähnlich, wie anderen Naturforschern, die begeistert waren von der Schönheit und Vollkommenheit der vielfältigen Formen, wie sie die Natur geschaffen hat. Als zentrales Organ erschien mir das Selbst, das es Wert ist, geachtet und geliebt zu werden, einfach weil es da ist (intrinsisch). Unabhängig davon ob es „gehorsam“ ist oder „nützlich“ - das entspräche einem extrinsischen Selbstwert. Die Auffassung von einem derartigen Selbst entspricht der unverlierbaren Würde eines Menschen, so wie es als Grundrecht auch in unserem Grundgesetz verankert ist. Dieses Selbst ist zwar von Geburt an angelegt, um aber wirksam werden zu können, muss es „geweckt“ werden, durch die bedingungslose Liebe eines Elternteils. Dann erst kann es zu einem Organ der Selbst-Regulation werden. Es schafft sich eine Struktur, durch die es sich selbst manifestiert und stabilisiert. Eine Struktur, die Autonomie und Selbstregulation ermöglicht, einschliesslich der Selbst Fürsorge. Durch die bedingungslose Liebe eines anderen (meist eines Elternteils), wurde dies Selbst „geweckt“. Diese Erfahrung, es Wert zu sein, bedingungslos geliebt zu werden, ermöglicht sowohl die Selbst-Liebe, als auch eine bedingungslose Liebe zu anderen.
Struktur und Beziehung Durch die Unterscheidung zwischen Ich und Nicht-Ich entsteht ein Bewusstsein für Grenzen. So können Räume mit unterschiedlicher Zuständigkeit entstehen: ein eigener Raum, in dem all das hinein gehört, was mich selber ausmacht – und nichts fremdes. Und der Raum des anderen, in dem ich nicht zuständig bin. Dieser geschützte eigene Raum ist die Voraussetzung dafür, dass die Person mit sich selber, mit ihrem waren Selbst identisch sein kann. Dieses Selbst ist auch die Quelle der „Kraft“, deren Aufgabe es ist, Ich-Fremdes zu erkennen und aus dem eigenen Raum zu entfernen. Dieses Selbst, das wie gesagt erst durch die bedingungslose Liebe eines Erwachsenen geweckt werden musste, hat dadurch die Erfahrung gemacht, dass es wert ist geliebt zu werden, unabhängig von Leistung. Daher kann es seinerseits anderen eine bedingungslose Liebe zeigen und selber bedingungslose Liebe von anderen annehmen. Personen, die in dieser Weise selbst verbunden sind, können sich auch anderen zeigen als die, die sie wirklich sind. Dadurch wirken sie auf andere echt und anziehend. Zwischen zwei Personen, die in dieser Weise kongruent und authentisch sind, kann eine gegenseitige Anziehung entstehen, sodass es zwischen ihnen zu einer Bindung durch Anziehung kommt. Wenn jeder sich selber und den anderen achtet, dann wird eine wahre, bedingungslose Liebe zwischen beiden möglich.
Aufstellungs-Bild und Bewegungen der Figuren als Symbolsprache Das Aufstellungsbild macht eine unbewusste innere Realität deutlich, entsprechend einer nonverbalen Symbolschrift. Diese Symbolsprache ist der Klient*in – aber auch der Therapeut*in und anderen Betrachtern – sofort verständlich. Die Übersetzung dieser nonverbalen Symbole in Wort-Schrift ist möglich, aber – wie bei allen Übersetzungen – nur annäherungsweise. Elemente dieser Symbolsprache sind räumliche Nähe – oder Entfernung zwischen den Symbolen, auch erhöhte Positionen, oder das Liegen auf dem Boden haben symbolische Bedeutungen. Die bei den Interventionen „Abgrenzung“ und „Gegenabgrenzung“ von der Klient*in ausgeübten Bewegungen haben ebenfalls eine Bedeutung. Sie lösen ausserdem bisweilen heftige Gefühle aus, in einer Bandbreite zwischen Angst (Verbot) und Glück (Befreiung). Während des geführten Aufstellungsprozesses werden diese Gefühle zusammen mit den damit verbundenen Bewegungen und Sätzen gespeichert. So können Fehlspeicherungen gelöst und die neuen Kombinationen von Satz und Bewegung gespeichert werden. Das entspricht einer Konditionierung. Die im Algorithmus beschriebenen Lösungsschritte sind in zwanzig Jahren Aufstellungsarbeit entstanden. Sie haben sich als sehr wirksam erwiesen. Auf den ersten Blick wirken sie vielleicht etwas schematisch und starr. Daher beschreibe ich an einem Fallbeispiel, welche Beobachtungen und Überlegungen zum Konzept und zu den Lösungsschritten geführt haben.
ZUM ALGORITHMUS
Fallbeispiel frühe Trennung Die Klient*in benennt ein Anliegen, z.B. „ich werde meiner Grossmutter immer ähnlicher. Als Kind war ich mehr bei meiner Grossmutter. Sie hatte Asthma. Zu mir war sie sehr lieb. Als ich mit 6 Jahren zu meinen Eltern zurück musste, war das sehr schmerzhaft für mich, umso mehr, da diese sehr überfordert waren und viel weniger Zeit für mich hatten. Die Oma ist schon lange tot, aber ich merke, dass ich mich immer so verhalte wie sie. Und jetzt habe ich auch noch Asthma – so wie sie“. Um das Anliegen zu klären, stellt sie – ihrem Gefühl folgend – Symbole auf für sich, für ihr „Ich“ („Fokus“), für ihre beiden Selbst- Anteile und zwei weitere Symbole für die Grossmutter und für das Asthma. Wenn sie dann selber sieht, dass sie viel näher ist bei ihrer Grossmutter und dem Asthma, als bei ihrem „wahren Selbst“, dann ist sie überrascht. Das war ihr nicht bewusst. Offenbar stellte sie der Grossmutter und deren Asthma ihre Aufmerksamkeit, ja sogar ihren eigenen Raum zu Verfügung, sodass ihr eigenes – ihr unbelastetes Selbst – dadurch an den Rand gedrängt wurde. Ist das die Ursache ihrer Probleme? Wenn sie dann – ihrem Verstand folgend – ein Lineal als Symbol einer Grenze zwischen sich und die Grossmutter und das Asthma legt, dann kann das gemischte Gefühle auslösen. Einerseits kann sie sich erleichtert fühlen, da sie mehr mit ihren Selbstanteilen verbunden und dadurch kongruent ist. Gleichzeitig kann sie aber auch das Gefühl bekommen, von etwas abgeschnitten zu sein, das ihr Orientierung und Identität gegeben hat – vielleicht sogar mehr als ihre eigenen Selbst-Anteile! Weiter: wenn sie die Symbole für die Grossmutter und deren Asthma aus ihrem Raum nimmt und in den Raum der Grossmutter stellt, dann fühlt sich das verboten an, wie Verrat. So als würde sie dadurch die Grossmutter mit ihrem Asthma im Stich lassen. So als sei sie noch heute durch ihr eigenes Asthma mit der Grossmutter verbunden! Verlust-Trauma führt zu Verwerfung der Struktur Diese Beobachtungen sind so charakteristisch und so häufig, dass dahinter eine Gesetzmässigkeit anzunehmen ist, die ich so beschreibe: Die Klient*in konnte als 6-jährige die Trennung von der geliebten Grossmutter nicht verarbeiten, das heisst als etwas Erledigtes abspeichern. Die Grossmutter verblieb daher als Ich-fremdes Introjekt in ihrem Identitätsraum, zusammen mit dem weiteren Introjekt: dem Asthma. So entstand ein „Konglomerat“, welches ihre Selbstwahrnehmung und ihr Verhalten bestimmte, da ihr wahres Selbst an den Rand gedrängt worden war. Konkret für ihr Anliegen bedeutet das: Das Introjekt Asthma war ihr näher als ihr eigenes Selbst, das „sich auch ohne Asthma vollständig fühlen kann.“ Daher hatte dieses Introjekt eine stärkere Wirkung auf ihre Befindlichkeit, als ihr wahres Selbst. Und da es sie zusätzlich mit der geliebten Grossmutter verband – das nennen manche irrtümlich „Loyalität“ – wurde die Verbindung mit dem Asthma noch stärker, sodass es durch übliche Behandlung nicht erfolgreich behandelt werden konnte. Wir sehen: Die Klient*in konnte nicht mehr sicher unterscheiden • zwischen sich und der Grossmutter. • zwischen ihrem eigenen Identitätsraum und dem der Grossmutter. • zwischen ihrem Asthma und dem der Grossmutter. Genau diese Aspekte gehören aber nach unserem Verständnis zur Struktur. Durch das fehlgespeicherte Trauma kam es also zu Verwerfungen dieser Struktur. Wichtig: Diese Trauma-bedingten Verwerfungen der Struktur zeigen sich auch im Autonomie-Diagramm. Sie wirken sich also auf alle Beziehungen aus im Sinne eines Symbiosemusters. Diese Struktur ist also durch eine ungelöste Symbiose verformt. Und sie begünstigt symbiotische Beziehungen.
Exkurs: Struktur STRUKTUR umfasst die Fähigkeit • ein Bewusstsein für das eigene Selbst zu haben, das seinen Wert in sich selber hat (intrinsisch), unabhängig von Leistung (entsprechend dem angeborenen Recht auf Menschenwürde in Grundgesetz!) • eigene Grenzen wahrzunehmen und zu schützen • fremde Grenzen wahrzunehmen und zu respektieren – ohne Kränkung • die Kraft (Aggression) gesund für sich einzusetzen (Abgrenzung) – statt gegen sich und gegen andere • das Bewusstsein des intrinsischen Selbst-Wertes macht es möglich, bedingungslose Liebe annehmen zu können – und anderen zu geben
STRUKTUR ist Voraussetzung für • Selbstverbindung (Autonomie) • Authentizität (Kongruenz) • Selbst-Fürsorge (Selfcare) • Resilienz (Widerstandsfähigkeit gegen Belastungen) • eine partnerschaftliche Beziehung auf Augenhöhe, die es ermöglicht, • bedingungslose Liebe zu empfangen – und zu geben.
Strukturtraining führt zu adaptiver Abspeicherung des Traumas Aufstellungen ermöglichen es nicht nur, eine solche Hypothese aufzustellen, sondern auch daraus gezielte Interventionen abzuleiten. Erweisen diese sich als wirksam, dann wird die Hypothese dadurch bestätigt. In diesem Fall bietet es sich an, dass die Klient*in das Konglomerat (Verlusttrauma mit Grossmutter und deren Asthma) aus ihrem Raum heraus stellt und symbolisch in einem Abgrenzungsmanöver „stoppt“, so als würde sie dadurch die Grenze ihres Raumes schützen. Wenn sich das für sie verboten oder lieblos anfühlt, dann kann sie sich entscheiden, ob sie sich nach ihrem – offensichtlich verwirrten – Gefühl oder lieber nach ihrem Verstand entscheidet. Diese Diskrepanz zwischen einem – verwirrten – Gefühl und dem Verstand finden wir sehr häufig bei traumabedingten Verwerfungen der Struktur. Durch diese Gefühlsverwirrung wird die Strukturverwerfung geradezu aufrecht erhalten.
Problemlösung durch Strukturtraining Durch diese Vorgehensweise wird die Fähigkeit der Klientin zur Unterscheidung und zur Abgrenzung gestärkt. Durch die symbolische Abgrenzung auch gegenüber dem Vergangenen wird das fehlgespeicherte Konglomerat „adaptiv“ abgespeichert, das heisst als etwas Vergangenes. Es kann dann auch nicht mehr getriggert werden. Durch dieses gezielte Training der Struktur kann die Klientin wieder Verbindung bekommen mit ihrem wahren Selbst, das sich vollständig fühlt auch ohne das Asthma, das sie mit der Grossmutter unbewusst verbunden hat. Die Folge: das Asthma der Klient*in kann nach einem derartigen Strukturtraining verschwinden – ohne dass es behandelt wurde. Da sie jetzt mit ihrem wahren Selbst verbunden ist, kann sie das Asthma loslassen, dass sie unbewusst noch mit ihrer Grossmutter verbunden hat. Und sie kann auch die Grossmutter, die sie unbewusst noch festgehalten hat, loslassen und „dahin gehen lassen, wo sie ihren Frieden findet“. Auch andere symbiotische Beziehungen – und das Autonomie- Diagramm – können sich nach einem solchen Training verändern im Sinne einer Zunahme von Autonomie.
Fazit: Das durch die Aufstellung erzeugte Aufstellungsbild macht Verwerfungen der Struktur sichtbar und bietet gleichzeitig eine „symbolische Bühne“, um durch gezielte Interventionen die Struktur wieder zu stärken. Die dadurch mögliche Selbst-Verbindung stärkt Kongruenz, Autonomie, Selbst-Orientierung und Selbst Fürsorge - und damit Gesundheit und Zufriedenheit. Wenn die Klient*in sich wieder mit ihrem wahren Selbst - statt mit der Grossmutter - identifizieren kann, dann kann sie auch bedingungslose Liebe empfangen und geben. Und sie kann das aggressive Potential konstruktiv nutzen, z.B in der Abgrenzung.