Zu diesem Thema hat Philipp Kutzelmann im Juli- Newsletter folgendes Fallbeispiel mitgeteilt:
Der Sturz vom Fahrrad
Marcel kommt zu mir mit dem Anliegen, dass er immer wieder das Gefühl hat, in Stressmomenten nicht ganz bei sich sein zu können. „Ich rase dann innerlich, habe das Gefühl den Halt zu verlieren und komme nicht so recht zur Ruhe.“
In der Aufstellung verwenden wir ein „blockierendes Element“ (BE) um das – noch unbekannte – Element zu symbolisieren, dass ihn davon abhält in diesen Situationen mit seinem Selbst – dem Teil von Ihm, der auch in diesen Situationen ganz gelassen sein kann – verbunden zu bleiben.
Zu Beginn der Aufstellung markiert er mit einem Stift eine Grenze zwischen sich, seinen Selbstanteilen und dem blockierenden Element. Das gibt ihm ein Gefühl der Distanz, auch „wenn dieses Ding da noch zieht.“ Als er sich dann Zeit nimmt, sich in das BE einzufühlen dauert es erst ein wenig, bis er etwas wahrnehmen kann. Zuerst kommt ein Gefühl der Hilflosigkeit und schwerer Atem. „Ich fühle mich ein bisschen als hätte man mir den Boden unter den Füssen weggezogen.“
Dann formt sich mit einem Mal ein Bild: Als Marcel ca. 5 Jahre alt war hat er einen kleinen Unfall mit seinem neuen Fahrrad. „Nichts weltbewegendes..“ wie er sagt. „Es war ganz in der Nähe des Hauses. Ich bin gefahren und hab wegen irgendwas eine blöde Bewegung gemacht. Dabei bin ich gestürzt und mit voller Wucht auf den Rücken gefallen. Ich habe keine Luft bekommen und war ganz erstarrt. Meine Mutter hat das dann wohl gesehen und ist dann ganz aufgeregt angerannt gekommen und hat auf mich eingeredet.“ Als er sich weiter in das Bild einfühlt, wird ihm deutlich, wie sehr ihn das damals überfordert hatte. Er hätte es gebraucht, dass seine Mutter ihm ein bisschen das Gefühl der Ruhe schenkt und ihm zeigt, dass es nicht so schlimm ist. Stattdessen hat ihn die Angst der Mutter, ihre Worte, ihre Sorge und die Nervosität noch mehr verunsichert. „Ich fühle mich da als würden mich die Ängste meiner Mutter und die körperliche Überforderung mit dem Sturz von beiden Seiten erdrücken.“
Marcel kehrt mit seiner Figur wieder bewusst in seinen Raum zurück und wir ergänzen eine Figur für die Mutter und auch für „Mutters Trauma“ auf der anderen Seite – also jene unverarbeiteten Stressbelastungen, die in diesem Moment bei der Mutter getriggert wurden und die es verhindert haben, dass sie ganz gelassen mit der Situation umgehen konnte. Das gibt ihm das Gefühl von mehr Distanz und mehr Gelassenheit. „Ein Großteil der Hilflosigkeit und die Verwirrung sind jetzt weg. Es ist jetzt leichter und nicht so bedrückend.“
Die nächsten Schritte der Aufstellung bestärken diesen Trend, bis auf einen Punkt: „Ich werde irgendwie dieses Gefühl der Bodenlosigkeit nicht los. Ich kann das Ganze jetzt mit mehr Distanz sehen, aber es bleibt ein bisschen so ein Gefühl als wäre ich erstarrt und als hätte ich keinen Boden unter den Füssen.“
Ich lade Marcel dazu ein, sich eine weitere Figur für sein „Körperselbst“ auszusuchen und diese neben das kleine Würfelchen zu stellen, das im anderen Raum seinen Unfall symbolisiert. „Das ist sehr unangenehm, aber auch sehr stimmig. Es ist ein bisschen als wäre der Körper mit diesem Unfall verschmolzen. Als würde er da immer noch darauf warten, dass ihm jemand aufhilft und ihn ein bisschen abstaubt und in den Arm nimmt.“
Ich schlage Marcel vor, ein paar Worte an den Körper zu richten, die er mir nachspricht: „Du, das Schwere von Damals ist schon lange vorbei. Wir haben es zum Glück gut überstanden und es kann uns Hier und Heute auch nicht länger gefährlich werden! Du gehörst nicht in die Vergangenheit – Du gehörst zu mir ins Hier und Jetzt!“
Nach diesem kurzen Dialog mit seinem Körper muss Marcel sehr tief durchatmen. Er holt die Figur für den Körper zurück in seinen Raum und drückt sie ganz eng mit den anderen Figuren zusammen. Ich lade Ihn dazu ein sich da noch mehr hinein zu spüren und auch die Ruhe, Tiefe, Kraft und Gelassenheit der Erde unter sich wahrzunhemen. „Das ist sehr entlastend. Es ist ein bisschen so, als hätte der Körper noch immer in dieser Situation festgesteckt obwohl sie ja schon lange vorbei war. Jetzt ist der Boden wieder da.“
Marcel ist danach in der Lage sich von dem Erlebnis zu lösen um sich aus einer freieren Perspektive mit der Mutter und ihren Ängsten – sie hatte in ihrem Leben immer wieder die Erfahrung gemacht, aus dem Nichts Personen zu verlieren – auseinanderzusetzen. Am Ende der Aufstellung sieht er sie nicht länger als eine zusätzliche Belastung und Überforderung. Er kann ihre Erlebnisse bei Ihr lassen und fühlt ein – „etwas distanzierte aber freiere und echtere“ – Liebe zu ihr.
Vom Tun-Modus zurück in den Seins-Modus
Die Aufstellung mit Marcel verdeutlicht ein wichtiges Prinzip in der Arbeit mit der Systemischen Selbstintegration. Die Belastung durch unverarbeitete Stressoren und „Traumata“ geht oft mit dem Gefühl von Unruhe und erhöhter Aktivität einher. Dieser „Tun-Modus“ hat seinen Platz denn er hilft uns auf unmittelbare Gefahrensituationen zu reagieren und sie zu meisten. Doch um seine Funktion zu erfüllen muss es uns möglich sein, danach wieder zu einem „Seins-Modus“ zurückzukehren. Doch oft können Stressbelastungen nicht adäquat verarbeitet werden und wir bleiben im „Tun-Modus“ stecken. Während der Rest von uns mit dem Leben fortfährt bleibt ein – oft sehr körpernaher - Teil von uns in der Zeit eingefroren. Er reagiert noch immer so, als wären wir in der Situation von Damals und trübt damit unsere objektive Wahrnehmung dessen, was gerade „Hier und Jetzt“ stattfindet. Und da dieser Teil von uns meist in der Kindheit angesiedelt ist, verbinden sich diese Erfahrungen noch mit dem Erleben von Überforderung und Ohnmacht, die wir dann durch noch mehr „tun“ zu kompensieren versuchen. Ein Teufelskreis.
Um aus diesem Teufelskreis herauszukommen braucht es manchmal eine „Rückholaktion“. Wir müssen in uns ein bisschen sicheren Raum schaffen um diesen Teil von uns einladen zu können, auch im Hier und Jetzt anzukommen und zu erfahren, dass das Schlimme von Damals längst vorbei ist.
Erst wenn wir unseren Raum im „Hier und Jetzt“ zurückgewinnen, dann wird es uns möglich aus dem reaktiven „Tun-Modus“ der Vergangenheit auszusteigen um wieder mit dem „Seins-Modus“ der Gegenwart Verbindung aufzunehmen. Dann wird es uns möglich die Erde zu spüren, die uns Ruhe, Kraft, Gelassenheit und Lebendigkeit gibt. Mit ihrer Tiefe und Stabilität verbunden können wir wieder lernen, das uns stets Beide möglich ist: zu sein und zu tun. Und wir finden so wieder den Kontakt zu unserem eigenen Selbst. Denn das können wir nur sein, wir können es nicht tun. Oder: wir sind es bereits – wir müssen es nicht erst erzeugen, erarbeiten oder uns seiner würdig erweisen. Wir müssen es nicht tun. Doch das können wir nur erfahren, wenn wir uns wieder erlauben zu sein. Die Erde hilft uns dabei. In dieser Erfahrung entsteht dann ein Raum für echtes Selbst-Vertrauen. Wir spüren, dass wir uns tragen lassen dürfen und dass es in uns eine Basis gibt, die alle Handlungen trägt.
danke für dies schöne Beispiel. Deine Ausführungen zum Thema Tun-Modus und Seins-Modus regen mich zu folgenden Überlegungen an: Du stellst dem Tun-Modus den Handlungs-Modus gegenüber. Auch ich denke, dass es diese beiden unterschiedlichen Modi gibt und dass es für die Gesundheit wichtig ist, zwischen beiden Modi wechseln zu können. In der Physiologie des Vegetativen Nervensystems wird ein "ergotroper" (handlungsbezogener) Zustand beschrieben, der durch eine Gefahr ausgelöst wird und bereit macht für Kampf oder Flucht. Der Sympaticus wird aktiviert: Der Blutdruck steigt, das Blut fliesst zu Hirn und Muskeln – auf Kosten des Darms. Die Hände werden schweissfeucht - das erleichtert das Klettern auf einen Baum! Daneben gibt es einen "trophotropen" Zustand, welcher die Erholung des Organismus, die Verdauung und das Auffüllen der Kraftdepots unterstützt. Unter dem Einfluss des Vagus (=Parasympathicus) wird das Gehirn schläfrig, der Darm wird aktiviert und durchblutet, sodass er die Nahrung verdauen und Energie speichern kann. Für die Gesundheit ist ein fliessender Wechsel zwischen beiden Zuständen erforderlich.
Der Berliner Psychiater Johannes Heinrich Schultz hat schon vor 100 Jahren beobachtet, dass dieser Wechsel bei vielen seiner Patient*innen gestört ist, sodass sie sich in einer dauernden Anspannung befinden. Das kann zu einer Vielzahl von Gesundheitsproblemen führen. Für sie entwickelte er die "gestufte Selbsthypnose", besser bekannt als Autogenes Training, als einfache Technik zur Selbstanwendung.
(Ich selber habe vor 50 Jahren in Berlin diese Methode erlernt. Als junger Assistenzarzt wurde ich im Nachtdienst manchmal zu einem Patienten gerufen. Wenn möglich traf ich selber eine Entscheidung, ohne den diensthabenden Oberarzt zu befragen. Danach konnte ich manchmal nicht mehr einschlafen. Da erwies sich das Autogene Training als sehr hilfreich. Es war die erste therapeutische Methode, die ich übernommen und gerne an Klient*innen weitergegeben habe.)
Meditation und Yoga sind weitere Techniken, aus der spirituellen östlichen Welt, die ebenfalls in dieser Richtung wirken. Durch die Arbeit mit nicht verarbeiteten Belastungen unserer Klient*innen haben wir gelernt: Menschen mit frühen Beziehungstraumata (Verlassenheit, Überforderung) haben häufig – als Überlebensstrategie? – eine Tendenz zu Kontrolle und Selbst-Überforderung. Bei ihnen ist sehr häufig der Grundstress-Level erhöht, und wird zusätzlich gesteigert durch Triggerung. Die Betroffenen sind sozusagen in einem Stressmodus fixiert, der sowohl ein zielgerichtetes Handeln, als auch Entspannung blockieren und zu Erschöpfung und psychosomatischen Beschwerden und Depression führen kann. Solange die Betroffenen den Zusammenhang mit einem Trauma nicht kennen, suchen sie Erleichterung bei den obengenannten Techniken. Wenn sie lernen, ihre Traumata „adaptiv“ zu speichern – als etwas das vorbei und erledigt ist – kann es nicht mehr „getriggert“ werden. Die Betroffenen finden endlich die Ruhe und Entspannung, die ihnen bisher gefehlt hat - anhaltender als durch die genannten Techniken. Darüber hinaus kann bei einzelnen (dafür Begabten?) die Erfahrung des Einswerdens mit dem Selbst (bzw. mit dem grösseren Ganzen) eine bisher unbekannte Erfahrung ermöglichen: den Seins-Modus. Dieser Zustand ist verbunden mit einer Befreiung vom Zwang, denken und handeln zu müssen. Von der östlichen Spiritualität wird er bezeichnet als "Erleuchtung" - und ist auch der abendländischen Mystik bekannt als „unio mystica“. Auch Laotse beschreibt diesen Zustand als "Handeln durch Nichthandeln". Oder: „Wo nichts zu tun ist, bleibt nichts ungetan.“ Das willentliche Streben nach diesem Zustand ist problematisch. Ein ständiges Verharren in diesem Zustand scheint unmöglich – und wäre auch mit der Bewältigung des Alltags nicht vereinbar. Realistisch und erstrebenswert scheint es mir, diese Zustand als Ressource zu kennen und zu wissen, wie man zu ihm gelangt.
Es macht mich glücklich, dass durch den Prozess des „Strukturtrainings“ sich manchen Menschen dieser Zugang eröffnet.
Lieber Ero, lieber Philipp, ich danke Euch für die geteilten Inhalte - denn nicht nur haben wir alle selbst in irgendeiner Form persönlich damit zu tun, sondern auch gerade wir, die Therapeutisch/Beratend tätig sind, können so viel wirksamer Arbeiten mit genau dem Bewusstsein um dieses Wissen. Es ist für mich eine große Freude in meiner Arbeit auch die alten Techniken wie Meditation und Yoga und andere Achtsamkeitstechniken mit der von Euch entwickelten Methode kombiniert anbieten zu können. Wie schön, wenn sich altes Wissen mit neuem verbindet zu noch mehr Wirksamkeit nicht nur im Bereich Heilung, sondern auch Gesundheitserhaltung. Meditation etc. kann nur dann in sich zur echten Entfaltung führen, wenn sie nicht mehr als Dissoziation von Problemerleben genutzt wird.
Ich freue mich auf alle noch folgenden Entdeckungen und Entwicklungen mit Euch! Liebe Grüße aus Fulda, Anne