Sonja* kommt zu mir, weil sie bemerkt, dass sie in bestimmten Stresssituationen dazu neigt „sich selbst unsichtbar zu machen.“ „Es fühlt sich so an, als würde ich transparent werden. Dass ich ja keine Angriffsfläche biete und auch schön unter dem Radar fliegen kann.“ Sie meint, dass es dann besonders schlimm sei, wenn es sich um kleine Gruppen handelt. „Wenn ich ein direktes Gegenüber habe oder wenn ich im Büro in einem größeren Team bin, dann fühle ich mich sicherer. Doch kürzlich war ich mit zwei Freundinnen unterwegs, die sich dann gestritten haben. Das war fast nicht auszuhalten.“
Wir arbeiten mit einem „blockierenden Element“ und gehen davon aus, dass es eine Sonja gibt, die auch in solchen Situationen souverän bleiben kann – ihr Selbst. Doch immer dann, wenn sich diese Gefühle und Verhaltensweisen zeigen, dann blockiert etwas den Kontakt mit diesem Selbst. Möglicherweise ein unverarbeiteter Stressor aus ihrer Biographie oder aus der Familienbiographie.
Dieses „blockierende Element“ stellt sie in der Aufstellung ganz nahe an ihr „kindliches Selbst“. Das „erwachsene Selbst“ steht weit weg an der anderen Seite des Tisches. Sonjas Figur steht dazwischen, ist jedoch näher an dem „blockierenden Element“ als an ihrem Selbst. „Das fühlt sich genauso an, wie in diesen Situationen. Ich muss immer auf das blockierende Element schauen. Wie das Kaninchen vor der Schlange. Das Kind nehme ich gar nicht so richtig wahr. Ich bin wie zementiert und gleichzeitig möchte ich verschwinden und unsichtbar werden.“
Sonja legt einen Stift als Symbol als eine Grenze zwischen sich und da blockierende Element, so dass ein eigener Raum für sie entsteht. Die Selbstanteile holt sie zu sich in ihren Raum. Das gibt ihr ein Gefühl von mehr Bewegungsfreiheit und die Zuversicht, dass diese „blockiernde Element“ nicht in ihren Raum gehört. Als nächstes spürt sie in das „blockierdende Element“ hinein um herauszufinden, was für ein Thema dahinter steckt. Erst nimmt sie wieder das Gefühl der Lähmung und den Drang zu verschwinden war, dann kommt ihr langsam eine konkrete Szene. „Ich sehe meinen Bruder. Der ist 12 Jahre älter als ich und ich habe große Angst. Er streitet sich mit meinen Eltern. Das haben sie immer gemacht. Es gab viele Probleme zwischen den Dreien.“ Ich frage sie, wie alt sie sich fühlt, wenn sie diese Szene betrachtet. „So vier oder fünf. Das müsste auch die Zeit gewesen sein, als mein Bruder ins Internat“ gekommen ist. Jedes Wochenende, wenn er daheim war, dann gab es die gleichen Auseinandersetzungen. Ich fühle mich überfordert und traurig, weil keiner sieht, wie es mir damit geht.“
Wir nennen das benennen das „blockierende Element“ in das „Kindheitstrauma der kleinen Sonja“ um und ergänzen Figuren für Ihren Bruder und Ihre Eltern. Die Szene so deutlich zu sehen bereitet ihr Bachschmerzen, doch die Grenze zu ihr gut. Wir beginnen, da erlebte von damals durch einige Sätze weiter in der Zeit zu differenzieren. Ich schlage Sonja vor zu sagen: „Du bist das Kindheitstrauma der kleinen Sonja von Damals. Und ich bin die erwachsene Sonja Hier und Heute. Du bist schon über vierzig Jahre her und Du bist kein Teil meiner Identität hier und Heute. Ich bin vollständig auch ohne Dich.“ Beim letzten Satz stock Sie. „Der stimmt nicht. Ich kann es sagen aber ich kann es nicht fühlen. Die anderen Sätze waren sehr gut. Doch beim letzten Satz ist es so als wäre ich zweigeteilt. Ich muss immer auf das Trauma schauen, es ist so als würde ich noch mit einem Fuß dort stehen.“
Ich erkläre Sonja, dass ich diese Reaktion immer wieder sehe und dass sie damit zusammenhängen könnte, dass die kleine Sonja noch immer in dieser Situation in der Vergangenheit eingefroren ist. Und für die kleine Sonja fühlt es sich deshalb in manchen Situationen so an, als wäre nicht 2021 sondern als wäre es wieder die Überforderung von Damals. Und um das zu ändern müssten wir eine Rettungsaktion für die kleine Sonja starten, so dass sie wahrnehmen kann, dass sie im Hier und Jetzt einen sicheren Raum hat.
Sonja kann mit der Erklärung gut mitgehen und ich fordere sie dazu auf, die Figur der „kleinen Sonja! zu nehmen und sie auf der anderen Seite der Grenze zwischen Mutter, Vater, den Bruder und das Trauma zu stellen. „Das fühlt sich ganz furchtbar an. Jetzt erstarre ich wieder und möchte verschwinden.“ Ich fordere Sie auf eine Hand auf die Figur ihres kindlichen Selbst zu legen und die andere auf die Figur der Sonja, die gerade das Thema bearbeitet. Dabei leite ich folgende Sätze an, die sie an die kleine Sonja richtet: „Du das Schlimme von damals ist lange vorbei. Wir haben es überlebt und es kann und Hier und Heute nicht länger gefährlich werden. Du gehörst nicht in die Vergangenheit – Du gehörst zu mir ins Hier und Jetzt.“
Die Sätze rühren Sonja an und es laufen ihr ein paar Tränen über die Wangen. Ich fordere Sie auf, mit ihrer Figur über die Grenze zu gehen und die kleine Sonja an der Hand zu nehmen um sie ins Hier und Jetzt zu bringen. Nachdem sie das getan hat, hält sie einige Momente inne, während die Tränen weiter fließen. „Das ist so, als wäre die Kleine erstmal verwundert und als würde sie sich hinter mir verstecken. Es ist noch nicht komplett gut, aber ich fühle mich deutlich Handlungsfähiger und nicht länger so zementiert.“
Danach läuft die Aufstellung leichter. Sonja kann sich von dem Trauma löse und wahrnehmen, dass es nicht in ihren Raum Hier und Heute gehört. Später ergänzen wir noch einige weitere Elemente und Details des Themas und sie sich von ihnen Abzugrenzen. Das Gefühl der erstarrten Ohnmacht und der Handlungsunfähigkeit kommen dabei nicht wieder und Sonja erlebt sich mit jedem Schritt der Aufstellung als klarer und eigenmächtiger. Nach drei Wochen gibt sie mir einer Rückmeldung, dass sich die Problematik deutlich verbessert hat. „Ich kann Streitereien in kleine Gruppen besser bei den anderen lassen und fühle mich davon nicht bedroht. Eigentlich habe ich keine Lust da überhaupt etwas machen zu müssen. Und eine andere Sache ist mir auch noch aufgefallen. Wenn ich im Alltag manchmal ins Schwimmen komme, dann frage ich mich sofort, wo oder bei wem die Kleine jetzt wieder gelandet ist. Und dann nehme ich sie innerlich bei der Hand und sage: ‚Wo immer du gerade bist – da gehörst Du nicht hin. Du gehörst zu mir ins Hier und Jetzt. Da bist Du sicher!‘ Das erlebe ich als sehr befreiend.
* Das Fallbeispiel wurde aus mehreren ähnlichen Fällen kompiliert