Der Schmetterling – und ein Kokon aus Leid und Schuld Ero Langlotz 6.7.2023
Wir erleben immer wieder, dass wir in unserem Wesenskern tief berührt werden: durch die Begegnung mit einem Menschen, mit einem Tier oder durch die Schönheit und die Kraft der Natur. Auch wenn wir diese Erfahrungen im Trubel des Alltags meist vergessen. In den alten spirituellen Traditionen, aber auch in der humanistischen Psychotherapie, gibt es ein altes Wissen, dass in jedem Wesen ein „göttlicher Funke“ präsent ist. Ibn Arabi, ein Sufimeister der im 12. Jh. lebte, vertrat die Lehre: Gott und die Schöpfung sind in ihrer Natur (physisch) eins.
Auch die Begegnung mit einem Kind kann uns tief berühren. Es hat eine natürliche Schönheit und Anmut, eine Unschuld und Reinheit, die uns verzaubert. Warum geht den Menschen diese natürliche Schönheit und Würde später verloren? Warum wird dieser „göttliche Funke“ später verdeckt durch Leid und Schuld!?
In der Natur, bei den Tieren geht diese Anmut und Schönheit auch später nicht verloren. Vielleicht, weil Tiereltern ihre Jungen mit einer bedingungslosen Liebe und Fürsorge schützen und aufziehen?
Warum ist das bei der Spezies homo sapiens nicht genauso?
Bei der Erforschung der frühen Beziehugserfahrungen meiner Klient*innen erkannte ich, dass Eltern ihren Kindern meist gar nicht die bedingungslose Liebe geben können, die diese brauchen, um ihren Selbstwert, ihre natürliche Würde zu entwickeln. Einfach deshalb, weil Eltern selber diese Liebe nicht erfahren haben. Da sie selber gar nicht mit ihrem Wesenskern verbunden sind, orientieren sie sich nach erlernten Überlebens-Strategien, in denen eigene und von den Eltern übernommene Verletzungen unbewusst noch enthalten sind. Offensichtlich neigen wir Menschen dazu, unsere Bezugspersonen – Eltern und Grossseltern – mit deren Schicksal, mit deren Leid zusammen zu sehen (zu identifizieren) – und nicht mit ihrem wahren Selbst, dessen wahre bedingungslose Liebe wir ja von ihnen nie oder nur selten erleben konnten. So schaffen wir eine Hülle aus Leid und Schuld, der das wahre Selbst der Eltern verdeckt, und zugleich gefangen hält – über ihren Tod hinaus.
Und da wir unser eigenes Selbst – den göttlichen Funken in uns – nicht wahrnehmen konnten, identifizieren auch wir uns mit unserem Leid, mit unserer Schuld. Und verdecken dadurch unseren eigenen göttlichen Funken durch eine Hülle aus Leid und Schuld gefangen. Dazu kommt: in traumatisierten Familien entsteht Bindung untereinander häufig nicht durch bedingungslose Liebe – die ja blockiert ist – sondern durch Leid! Entweder teilt man das Leid eines anderen, oder man kreiert (unbewusst) ein ähnliches Leid, um sich so mit eine belasteten Bezugsperson verbunden fühlen zu können. So wird das Leid zur „Clubkarte“, durch die man seine Zugehörigkeit beweisen kann! Daher empfinden manche das Loslassen des eigenen Leids als verboten: so als würden sie dadurch ihre Zugehörigkeit verlieren. Oder als Verrat, so als würden sie dadurch die anderen im Stich lassen mit ihre Leid.
Heute früh am 6.7.2023 – vor 128 Jahren kam mein Vater auf die Welt! – kam mir dieses Bild, dass wir unsere verstorbenen Vorfahren immer noch festhalten, in einer Hülle aus Schuld und Leid. Sodass ihr Wesenskern, ihr göttlicher Funke, immer noch nicht frei ist, seinen Frieden zu finden. Bei unseren Ahnen – und bei uns selber – ist der Schmetterling immer noch in einem Kokon aus Leid und Schuld gefangen.
Wenn wir lernen, bei bei unseren Vorfahren zu differenzieren zwischen dem Kokon aus Leid und Schuld – und dem wahren Selbst, dann wird das vergangene Leid und Schuld irrelevant. Der Kokon zerfällt. Der Schmetterling ist frei.
Dann können auch wir uns aus unserem Kokon aus Leid und Schuld befreien. So bei unserem eigenen Wesenskern, bei unserem Selbst angekommen, spüren wir gleichzeitig eine tiefe Verbindung zum Selbst unseren Vorfahren. Eine Verbindung „von Herz zu Herz“. Dazu passen zwei andere Bilder, die mich schon lange begleiten:
Die Erde hat uns hervorgebracht. Sie trägt und nährt uns, bedingungslos. Wenn wir uns dessen bewusst sind, dass wir Teil sind eines grösseren schöpferischen Ganzen, dann gibt uns das eine Würde und einen eigenen Selbst-Wert. Und wir fühlen uns dankbar, verbunden mit der Erde und ihren Geschöpfen – unseren Geschwistern.
Unser Leben kommt zu uns durch unsere Eltern. Unser Leben ist immer rein und so unschuldig – wie ein Neugeborenes. Das Leben wird, wie das Feuer in einem Stafettenlauf mit einer Fackel, weitergegeben von Generation zu Generation. Auch wenn die einzelnen Generationen belastet waren durch Leid oder Schuld – das Feuer der Fackel ist immer rein und unschuldig. Das heisst wir dürfen von unseren Vorfahren dies reine Feuer nehmen, und weitergeben an unsere Kinder. Das Schwere – Leid und Schuld – können wir bei ihnen lassen. Danken wir unseren Ahnen dafür, dass sie nicht gestürzt sind, bevor sie die Fackel des Lebens an den nächsten Fackelträger übergeben konnten!