Durch unsere Methode, die Selbst-integrierende Stressor-Auflösung, können wir frühe Beziehungstraumen symbolisieren und in einem Prozess löschen. Bei dieser Arbeit erkannte ich – zusammen mit meine Kollegen Philipp Kutzelmann, eine doppelte, sich gegenseitig verstärkende Dynamik, welche die Betroffenen in ihrem Leid festhält – ohne dass ihnen das selber bewusst ist.
1. Das eigene „Überlebensprogramm“ Bei frühen Beziehungstraumen entwickeln die Betroffenen eine Überlebensstrategie, ein Überlebens – “Programm“, angepasst an die eigenen Verletzungen, und an die der Bezugspersonen.
Eigene Verletzungen werden gespeichert, so als seien sie die einzige Verbindung zu der Bezugsperson, zusammen mit deren Verletzungen. Und zwar so „sicher“ gespeichert, dass es dem Bewusstsein nicht zugänglich ist: Die Betroffenen haben keinen „Zugangscode“ zu ihrem eigenen Programm. Daher kann es von den Betroffenen auch nicht erkannt und an die inzwischen veränderte Realität angepasst werden. Es handelt sich da um einen sehr archaischen, reflexartigen Überlebens-Mechanismus. Er beinhaltet auch so etwas wie Verbote, den eigenen Verstand zu benutzen, dies Programm zu erkennen und es zu verändern. Dies Programm verbindet Aspekte von Selbst-Verleugnung und magisch-grandioser Selbst-Überhöhung (um sich zu schützen, oder um von anderen Anerkennung zu bekommen, um sich für andere wertvoll zu fühlen.) Die Beziehung zu einem eigenen Selbst, zu einem inneren „Kompass“ als Orientierungs-Instanz geht dadurch verloren. Als Kompensationsversuch kann das Symbiosemuster verstanden werden: Verlust der Grenzen, Orientierung an Fremdem.
Dies Programm und die gespeicherten eigenen und fremden (übernommenen) Verletzungen bestimmen ein Leben lang das Selbstbild, das Erleben und das Verhalten der Betroffenen – ohne dass ihr selber diese Zusammenhänge bewusst sind. Dies Programm ist weitgehend therapieresistent. Therapie kann zwar durch mühsam erlernte Verhaltensänderungen die Symptome lindern– mit erheblichem mentalen Aufwand. Aber das Überlebensprogramm ist dadurch nicht gelöscht.
2. Bindung durch Leid und Schuld Die Betroffenen haben eigenes und übernommenes Leid als Teil ihrer Identität gespeichert. Und sie fühlen sie sich durch dies Leid mit den Bezugspersonen verbunden. So entsteht in traumatisierten Familien eine Bindung durch Leid und Schuld – um so mehr, als in traumatisierten Familiensystemen eine Bindung durch bedingungslose Liebe selten möglich ist. Die Betroffenen haben durch ihr Überlebensprogramm den Bezug zu ihrem eigenen Kompass, zu ihrem Selbst und zu ihrem „intrinsischen“ Selbstwert verloren. Daher fühlen sie sich nicht mehr „wert“, bedingungslose Liebe anzunehmen, oder selber zu verschenken. So bleibt nur die Bindung durch das Leid. Diese Bindung ist fast unlösbar, sie hält – „wie Pattex“! So wird das Leid – salopp gesprochen – zu einer „Clubkarte“, welche die Zugehörigkeit zu dem traumatisierten Kollektiv erst ermöglicht. Verwirrend ist, dass diese Bindung irrtümlich oft als „Loyalität“ oder „Liebe“ missverstanden und sogar eingefordert werden kann. Diese Verwirrung des Gefühls für richtig und falsch erschwert es später den Betroffenen, sich von – eigenem und übernommenen – Leid zu lösen, so als sei das egoistisch, wie Verrat am Kollektiv. Oder als verlören sie dadurch ihr Recht auf Zugehörigkeit.
Im Unterschied zu der bedingungslosen Liebe macht jedoch diese „Liebe“ nicht frei. Sie fesselt die Betroffenen durch Leid und Schuld.
Gleichzeitig bleibt eine tiefe Sehnsucht nach dieser bedingungslosen Liebe, die den anderen nicht belastet und verpflichtet, sondern dessen Freiheit unterstützt. Ein verzweifeltes Dilemma.
3. Die Kombination dieser beide „Fesseln“ Infolge der irrtümlichen Identifikation mit eigenem und übernommenem Leid orientieren sich die Betroffenen mehr an diesem Leid bzw. an dem dadurch entstandenen Überlebensprogramm. Der Zugang zu ihrem eigenen Selbst – dem inneren Kompass – wird blockiert. Und sie identifizieren irrtümlich auch ihre Bezugspersonen mit deren Leid, derart, dass sie bisweilen den „gesunden“ Anteil der traumatisierten eltern, deren „wahres Selbst“ nicht wahrnehmen können.
Natürlich hatten auch die Eltern ein wahres Selbst, einen inneren Kompass, auch wenn sie infolge eigener Traumata mit diesem Selbst nie oder nur selten verbunden waren. Sodass sie deshalb ihren eigenen Kindern ihre bedingungslose Liebe nie – oder nur selten zeigen konnten.
So wird das eigene Selbst – und das der Angehörigen – eingehüllt in einen „Kokon“ von Leid. Zugleich schafft dies Leid eine Pattex- förmige Verbindung zu den Bezugspersonen – über den Tod hinaus. Indem die Verstorbenen und ihr Leid in dieser Weise missbräuchlich festgehalten werden, können sie ihren Frieden nicht finden – noch nicht einmal dann, wenn sie gestorben sind. Aber auch die Angehörigen, die die Verstorbenen in dieser Weise „festhalten“, finden nicht in ihr eigenes Selbst-bestimmtes Leben. Bei diesem „Muster“ verlieren alle Betroffenen: Eine klassische Lose – Lose – Situation.
4. Die Natur als Modell Um zu einer Lösung zu kommen, waren mir folgende Überlegungen hilfreich - orientiert an der Natur. Unser Leben kommt zwar durch die Eltern zu uns. Aber es ist die Erde, die uns hervorgebracht hat. Sie trägt und nährt uns, bedingungslos. Wenn wir uns dessen bewusst sind, dass wir Teil sind eines grösseren schöpferischen Ganzen, dann gibt uns das eine Würde und einen eigenen Selbst-Wert. So verbunden mit dem „göttlichen Funken in uns“ (C.G.Jung) fühlen wir uns dankbar, fühlen wir uns verbunden auch mit der Erde und ihren Geschöpfen – unseren Geschwistern.
Unser Leben wird, wie das Feuer in einem Stafettenlauf mit einer Fackel, weitergegeben von Generation zu Generation. Auch wenn die einzelnen Generationen belastet waren durch Leid oder Schuld – das Feuer der Fackel ist immer rein und unschuldig. Das heisst wir dürfen von unseren Vorfahren dies reine Feuer nehmen, und weitergeben an unsere Kinder. Das Schwere – Leid und Schuld – können wir bei ihnen lassen. Statt unsere Ahnen zu bemitleiden – oder zu verurteilen – dürfen wir sie dafür achten, dass sie nicht gestürzt sind, bevor sie die Fackel des Lebens an den nächsten Fackelträger übergeben konnten!
5. Lösung Wenn wir diese Zusammenhänge auf uns wirken lassen, dann können wir die Lose – Lose – Situation verwandeln in einer Win – Win – Situation. Wir lösen die symbiotischen (Pattex –) Bindung, indem wir das eigene und das übernommene Leid loslassen. Das Respektieren der Grenze, die durch den Tod entsteht, ermöglicht es, auch die Grenzen zwischen Lebenden zu erkennen, zu schützen und zu respektieren. So kann der eigene Raum erkannt und geschützt werden. So können fremde Räume und Zuständigkeiten wahrgenommen und respektiert werden. So entsteht wieder eine Struktur, die Fähigkeit, eigene Grenzen wahrzunehmen und zu schützen, aber auch fremde Grenzen wahrzunehmen und zu respektieren. So wird die innere Mitte wieder frei für den eigenen Kompass – für das eigenen Selbst. Die eigene Kraft kann sich wieder entfalten in gesunden Kanälen – statt sich destruktiv gegen sich oder andere zu richten. Und . . . das Bewusstsein des eigenen Selbstwert – des „göttlichen Funken in uns“ öffnet auch wieder das Herz, um bedingungslose Liebe anzunehmen, und zu schenken. Das Symbiosemuster wird dadurch entbehrlich – und löst sich auf.
Diese Überlegungen führten zu unserem Konzept der „Selbst-integrierenden Stressor-Auflösung“.
6. Rückmeldung Um dies „trockene“ Konzept mit Leben zu füllen, hier die Rückmeldung einer Klientin nach eine Aufstellung: „Ich fühle mich bestärkt und auf fundamentalere Weise berechtigt mein Leben für mich zu gestalten und den Schmerz, der nicht meiner ist, da sein zu lassen wo er herkommt (bei meiner Ursprungsfamilie und ihre fortlaufende Dysfunktion). Ich finde es leichter mich als Mensch mit einer eigenen intrinsischen Daseinsberechtigung zu sehen und meine Familie als ein sehr ungünstiges Tor, durch das ich ins Leben gekommen bin, das mich nicht mehr länger definiert. Ich habe mehr Vertrauen, dass meine Orientierungspunkte, die ich mir unabhängig von der Familie aufgebaut habe keineswegs „billiger Ersatz“ sind und Stützräder, sondern eine echte Grundlage und Nährboden für mich als Mensch. Dass ich ein Fundament im Leben habe und meine Familie wie eine alte Haut, die mich nicht mehr schützt sondern nur noch behindert, loslassen kann. Es gibt viele Ansatzpunkte dafür, was meine Orientierungspunkte im Leben sind, aber ich bin jetzt nochmal radikaler darin, dass das meine Hauptbezugspunkte sind, die mich de facto, sofern ich die Nährstoffe aufnehmen kann, tragen und nähren in einer Weise, die ich von meiner Familie niemals bekommen habe. Wenn ich die Nährstoffe, die um mich herum da sind wirklich aufnehmen, merke ich, stellt sich die Frage gar, wo ich mich eher verbunden fühle – mein jetziges Leben oder meine Ursprungsfamilie. Ich sehe die Ablösung von meiner Familie jetzt als längst überfällige, natürliche Neuorientierung zu Ressourcen hin, wo ich meine Bedürfnisse tatsächlich endlich abdecken kann. Und klar bin ich nach bestimmten Ressourcen weiterhin sehr hungrig (Anerkennung zb), aber ich fühle, dass ich mittlerweile ein Gegengewicht in mir habe, dass mich sicher hält und einschätzen kann, wo und mit wem es sicher ist, das zu bekommen und wo ich mich besser schütze. Also dass ich diesen Hunger langsam sättigen werde über Jahre verteilt und das okay ist.“