Die moderne Vorstellung, dass mit dem Tod alles aus sei, dass der Verstorbene verschwinde, als hätte es ihn nie gegeben, ist nur angeblich „wissenschaftlich“, sie lässt sich streng genommen genauso wenig beweisen wie das Gegenteil. Aber mir scheint, dass diese „moderne“ Todesvorstellung seit Generationen das Abschiednehmen erschwert hat. Dass sie mit dazu beigetragen hat, dass Lebende sich von Verstorbenen nicht verabschieden konnten, nicht „bei sich selbst“ sein konnten, sich dem Leben, ihren Kindern nicht zuwenden konnten, so dass diese kompensatorisch dazu verleitet wurden, für die Eltern Verstorbene zu ersetzen – sich mit ihnen zu identifizieren –, so dass auch die Kinder nicht „bei sich selbst“ sein konnten und so fort – von Generation zu Generation. Wie es scheint, haben wir seit Generationen verlernt, uns von unseren Verstorbenen zu verabschieden.(Vgl. zu diesem Thema Philippe Ariès: Geschichte des Todes, München, 11. Auflage 2005.)
Der würdige Tod Ein Kursteilnehmer berichtete einmal aus seiner Kindheit, vom Tod seiner Großmutter, einer 85-jährigen Bäuerin. Jeden Morgen machte sie noch Feuer in allen Öfen des Hauses. Eines Tages sagte sie „jetzt lege ich mich zur Ruhe“. Da die Familie sie beim Frühstück vermisste, schaute sie nach ihr: sie hatte sich in ihr Bett gelegt, um zu sterben. Diese Selbstverständlichkeit, diese Würde des Todes ist heute sehr selten geworden. Wir können nicht mehr in Würde leben – und deshalb nicht mehr in Würde sterben. Wir haben Angst vor dem Tod, vertrauen unsere Sterbenden den Medizinern an – die keine Ärzte mehr sind. Sie haben das Heilen verlernt und können den Tod und das Sterben nicht achten. Daher können sie ihre Patienten nicht auf den Tod vorbereiten. Durch Intensivmedizin, eventuell Explantation von Organen für Organtransplantationen – werden die Sterbenden und die Lebenden um Tod und Abschied betrogen. Man sieht auch keine Leichenwagen mehr. So als wollten die Bestattungsunternehmen nicht die seelische Grausamkeit begehen, Lebende an die Tatsache ihres eigenenTodes zu erinnern!
Ein Verbot, zu sterben? Der amerikanische Psychotherapeut Arnold Mindell (*1940) berichtet (in Schlüssel zum Erwachen: Sterbeerlebnisse und Beistand im Koma, Ostfildern, 5. Aufl. 2003) die Geschichte eines 80-jährigen Afro-Amerikaners, der in einem Krankenhaus lag und seit Wochen nicht mehr ansprechbar war. Er schrie immer wieder, er konnte nicht sterben. Die Krankenschwestern baten Arnold Mindell, mit ihm zu arbeiten. Er nahm auf seine Art Kontakt zu ihm auf und hörte den Alten Folgendes flüstern: „A ship, I see a ship!” Mindell: „Wonderful, what sort of ship is it? Where does it go?” „It goes to the Bahamas.” Mindell: „How interesting! Who is on the ship? Wat does it cost?” „Oh it is run by angels! It costs nothing!“ Mindell: „So you could make holidays!” „No – impossible! I have to go to work!!” Mindell: „Really? You have to work? Are you sure? You worked so much! You are allowed to go on a holiday, You know! You could at least try to do!” Eine halbe Stunde später war er friedlich gestorben. Dies ist ein Beispiel dafür, dass auch das Sterben, als Bewegung zum Tod blockiert sein kann, in diesem Fall durch einen Glaubenssatz, ein unbewusstes Verbot. Und wie ein Begleiter – Schamane oder Therapeut – das unbewusste „Sterbeverbot“ lösen kann, sodass der Betreffende seinen Frieden finden kann.
Ablösung und Sterben Häufiger ist folgende Situation, eine ca. 60-jährige Frau kommt zum Seminar. Sie ist mit ihrer alten Mutter nicht versöhnt, die schon im Pflegeheim liegt und nicht sterben kann. Wenn sie sich dann mit Achtung von den Eltern, von der Mutter ablösen kann, danken für das leben, das sie durch die Mutter bekommen hat, dann wirkt sich dies befreiend nicht nur für sie, sondern auch auf die Mutter aus. So, als habe sie durch die nicht vollzogene Ablösung diese noch am Sterben gehindert! Und die Mutter kann sterben, manchmal Stunden oder Tage nach der Aufstellung!
Dynamik des Abschiednehmens Der Abschied von einem Verstorbenen hat mehrere Aspekte: Solange ich noch trauere, noch Vorwürfe oder Schuldgefühle habe, kann ich den anderen nicht ziehen lassen, so als würde ich ihn festhalten. Ein Teil von mir – meiner Seele – ist noch bei ihm, hindert auch ihn daran zu gehen. Der Verstorbene kann seinen Frieden nicht finden – und ich selber kommt nicht richtig ins Leben. Die Lösung besteht meines Erachtens darin, anzuerkennen, dass der andere gestorben ist, dass er nicht mehr in dieser Welt ist. Man kann dann das würdigen, was man bekommen hat, was man mit dem Verstorbenen erleben durfte, Schönes und Schmerzliches. Hinzu kommt die Notwendigkeit, sich innerlich mit dem Verstorbenen zu versöhnen, egal, was man dem Verstorbenen noch schuldig zu sein glaubt oder was man ihm noch vorwirft. Wird dieser Schritt vollzogen, dann ist Trennung und Abschied möglich. Dann kann man nach einer gewissen Weile den Verstorbenen loslassen, ihn dahin gehen lassen, wo er seinen Frieden findet, zu den Verstorbenen, zu den Ahnen. Jetzt erst kann man den Abschiedsschmerz spüren, aber er ist heilsam, er öffnet die Türe zu etwas Neuem.
Tod und Sterben in anderen Kulturen In Sibirien, wo die schamanische Tradition sich noch lange gehalten hat, wurde der Schamane früher drei Tage und dann noch einmal sieben mal sieben Tage nach dem Tod eines Angehörigen geholt. Er vollzog Rituale, schaute, ob der Verstorbene noch etwas braucht, um sich verabschieden zu können. In Japan gibt es auf den Friedhöfen Plätze, an denen man – für eine gewisse Zeit – Tonfiguren für abgetriebene Kinder aufstellen kann, geschmückt mit Schleifen. Diese Kultur des Abschieds und des Trauerns gab es auch bei uns, sie ist aber immer mehr in Vergessenheit geraten. Sie wirkt sich positiv auf die Gesundheit und die seelische Befindlichkeit dieser Menschen aus. Wenn den Verstorbenen ihr eigener Raum zugestanden wird, können die Lebenden sich von den Verstorbenen verabschieden und leichter ihren Raum im Leben einnehmen. Das verhindert, dass Lebende im Raum des geliebten Verstorbenen bleiben (auf deren Totenschiff) oder diesen in ihrem Raum festhalten. Wenn der Tod als Grenze geachtet wird, können die Lebenden sich anders dem Leben zuwenden! Hier erscheint der Tod als Grenzwächter des Lebens. Dadurch wird eine ungesunde Vermischung (confusio) zwischen Lebenden und Toten verhindert. Das ist Psychohygiene.
du schreibst in deinem Beitrag kritisch über Organtransplantationen. Wie stehst du konkret zu dem in den letzten Monaten verstärkt diskutierten Theama Organspenden ? Gerade aus systemischer Sicht.
Die Frage, ob ich mich entscheide, bei meinem Tod Organe für Transplantation zu Verfügung zu stellen, um das Leben eines anderen zu verlängern, oder ob ich selber mir das Organ eines anderen einpflanzen lasse, um länger leben zu können, ist eine sehr persönliche Frage, die ich nicht allgemein beantworten kann. Zum Thema Abstossungsreaktionen gegen ein implantiertes Organ gibt es eine Beobachtung. Dadurch, dass der Betroffene sich innerlich vor dem Organspender und dessen Schicksal - tödlicher Motorradunfall - verneigte, liess die Abstossungsreaktion seines Körpers gegen das eingepflanzte Organ (Niere) deutlich nach.