Das fremde Selbst am Platz des abgespaltenen eigenen?
Regina, eine 30 jährige Juristin – gross, kräftig, vital - berichtet, eine Kollegin habe sich bei dem gemeinsamen Vorgesetzten über sie beschwert, ohne das mit ihr vorher zu besprechen. Sie finde das überhaupt nicht ok., habe aber panikartige Angst davor, das ihrer Kollegin direkt zu sagen. Das kenne sie von sich, so gehe es ihr oft mit Menschen, die sie nicht ganz gut kenne. Manchmal raste sie bei einem solchen Konflikt aus, bekomme einen Wutanfall, wie ein Kind. Dafür schäme sich sich und lehne sich dann selber dafür ab. Das ist wohl der Grund dafür, dass sie einer solchen Auseinandersetzung meist aus dem Weg gehe. Als Kind erlebte sie, dass sie in ihrer Familie massiv abgelehnt und bloß gestellt wurde, wenn sie ihre eigene Meinung sagte, oder „Nein“ sagte - „erwachsenes Selbst“ - oder wenn sie – zum Beispiel deswegen - wütend wurde - „kindliches Selbst“.
In der Annahme, es handele sich einfach um eine fehlende Abgrenzung, um eine „Identifikation“ mit dem Gegenüber - und Abspaltung des Eigenen – lasse ich sie die Beziehung zu dieser Kollegin aufstellen. Sie stellt ihr „kindliches Selbst“ der Kollegin einen Meter gegenüber, sie selbst steht in 4 Meter Entfernung, ihr erwachsenes Selbst zwei Meter hinter ihr, mit abgewandten Gesicht. Ihr „inneres Kind“ tobt vor Wut, ihr erwachsenes Selbst fühlt sich nicht verbunden, dabei ruhig, gelassen, wie unbeteiligt. Sie versteckt sich sozusagen hinter ihrem kindlichen Selbst, das sie dem Gegenüber ausliefert, und ist selber alleine, getrennt von ihrem erwachsenen Selbst. Dieses Ausmass an Abspaltung sehe ich nur bei Trauma, daher lasse ich die Repräsentantin der Kollegin sich setzen und unterstützte die Klientin dabei, sich mit ihren Selbstanteilen zu verbinden.
Annäherung an die Selbstanteile Bereits die Annäherung an ihr erwachsenes Selbst fällt ihr sehr schwer, löst geradezu Panik bei ihr aus! Es ist offensichtlich, dass sie als Kind erlebt hat, wie dieses erwachsene Selbst in Konflikt mit den Eltern geriet, und von ihnen dafür abgelehnt wurde. Sie sieht – auch heute noch! - ihr erwachsenes Selbst sozusagen durch die Brille der Eltern – aber das ist nicht durch ein einfaches „Ablegen der elterlichen Brille“ zu lösen – wie meist in ähnlichen, leichteren Fällen. Das spiegelt ein massives frühkindliches Trauma wieder, das die Klientin aber offensichtlich auf irgendeine Weise überlebt hatte. In solchen Fällen sucht ein Kind oft Hilfe bei einer Figur aus der Religion, aus einem Roman oder aus der eigenen Fantasiewelt. Auf Befragen nickt sie und sagt – verschämt – sie habe sich „Gabriel“ herbeifantasiert, einen starken Mann, der es mit allen, mit der ganzen Familie aufnehmen konnte! Diese Fantasiefigur hole sie sich noch heute zu Hilfe, wenn sie Panik bekomme. Sie sucht sich einen Repräsentanten für „Gabriel“ und stellt ihn neben sich – sofort verschwindet ihre Panik. Mit Hilfe von „Gabriel“ kann sie sich vorsichtig ihrem erwachsenen Selbst nähern. Heute, als Erwachsene kann sie erkennen, dass sie selbst, ihr „erwachsenes Selbst“ ganz unschuldig war. Für die massive Ablehnung durch die Eltern war gar nicht Regina verantwortlich gewesen, sondern die Eltern! Sie konnte – zum ersten Mal? - sich in einem Prozess der langsamen Annäherung mit dieser erwachsenen Regina identifizieren, mit ihr verschmelzen. Verbunden mit dieser erwachsenen Regina – und immer noch mit dem fantasierten Beschützer „Gabriel“ - kann sie sich der kindlichen Regina zuwenden. Diese ist immer noch sehr wütend, will am liebsten schreien und auf den Boden stampfen. Das macht Regina erneut Panik. Ihr erwachsenes Selbst, aber auch „Gabriel“ dagegen haben volles Mitgefühl mit dem inneren Kind, sind sogar bereit, mit ihm gemeinsam zu schreien und auf den Boden zu stampfen. Das erstaunt sie und zögernd nimmt sie die Aufforderung an, gemeinsam mit ihrem inneren Kind zu schreien und auf den Boden zu stampfen. Als sie das aggressive Potenzial der „kleinen Regina“ nicht mehr als bedrohlich ablehnen muss und es integrieren kann – verschwindet die Panik, sie lächelt zum ersten Mal. Nun kann sie der „kleinen Regina“ - die offenbar mit ihrer Kraft und Vitalität in der Familie unerwünscht war – eine „standesgemässe Begrüssung auf dieser Welt“ zukommen lassen – was die Eltern offensichtlich versäumt hatten. „Wie schön, dass du da bist, dass du so bist wie du bist. Und ich mag dich, auch wenn du wütend und zornig bist!“ Nun kann sich Regina mit beiden Selbstanteilen verbinden. Und es wird deutlich, das ihr fantasierter Beschützer „Gabriel“ eigentlich ein „Doppelgänger“ ihres erwachsenen Selbst ist, den sie jedoch in einer geheim gehaltenen Fantasiewelt angesiedelt hatte, damit er von den Eltern nicht wahrgenommen – und abgelehnt abgelehnt werden konnte. Das war ihre sehr kreative Überlebensstrategie als Kind – die aber für die Regina von heute nicht mehr so praktikabel ist. Nachdem sie sich mit der „erwachsenen“ und mit der „kindlichen“ Regina verbunden hatte, kann sie sich von „Gabriel“ mit Dank verabschieden.
Beziehungsklärung zur Kollegin So verbunden mit ihren Selbstanteilen kann sie der Kollegin ganz anders begegnen, gelassen, ohne Panik. Die übliche Überprüfung einer Identifizierung mit dem Gegenüber ergibt nur eine geringe Resonanz bei ihr. Als der Kollegin deren Selbst zur Seite gestellt wird, machte sie das unsicher. Die Überprüfung, ob sie der Kollegin deren „Selbst“ ersetzen wollte – so als wolle sie ihr nahe bringen, wie sie eigentlich hätte sein sollen – ergibt auch wenig Resonanz. Eher scheint es ihr so, als würde sie der Kollegin ein Selbst nach ihrem eigenen Geschmack zuteilen wollen - um mit ihr besser auszukommen? Da kommt mir die Idee, ob sie vielleicht das Selbst der Kollegin an die Stelle ihres eigenen abgespaltenen Selbst setzt – ein genialer Schachzug, um mit ihr besser auskommen zu können? Allerdings um den Preis der Selbst-Entfremdung! Tatsächlich fühlte es sich für sie vertraut an, als ihr das Selbst ihrer Kollegin zur Seite gestellt wurde. Anscheinend war das ein Teil ihrer Überlebensstrategie bei Konflikten gewesen: das fremde Selbst an den Platz des eigenen, abgespaltenen Selbst zu stellen. Das „funktionierte“ jedoch nur bei Menschen, die sie kannte – oder zu kennen glaubte – nicht bei unbekannten! Daher die Panik bei einem Konflikt mit einem unbekannten Gegenüber?! Sie konnte nun zu ihrer Kollegin den klärenden und befreienden Satz sagen: Du hast dein Selbst und das gehört zu dir und nicht zu mir. Und ich habe mein eigenes Selbst, das passt zu mir und es ist ganz anders als deins!
Abgrenzung und Gegenabgrenzung Es war für sie nun ungewohnt, aber kein wirkliches Problem, ihren eigenen Raum gegenüber der Kollegin – und deren Selbst! - durch ein Abgrenzungsritual „in Besitz“ zu nehmen. Die Gegenabgrenzung der Kollegin erlebte sie zunächst als verunsichernd, aber nach und nach konnte sie das akzeptieren, ja sie verspürte sogar danach einen verstärkten Impuls, sich mit ihrem eigenen Selbst zu verbinden. Diese Beobachtungen machen verständlich, dass und warum ein „banaler“ Konflikt für traumatisierte Menschen zu einer Verstärkung der Abspaltung führen und damit wie eine Retraumatisierung wirken kann.
Rückmeldung Regina nach einer Woche Mir ist heute was tolles passiert! Ich wurde zu einem Gespräch mit meinem Vorgesetzten gebeten bei dem er schon im Vorfeld angekündigt hat, dass er Themen mit mir besprechen möchte wo er mit meiner Arbeit nicht zufrieden ist - es hat sich dann herausgestellt dass das alles Kleinigkeiten sind. Normalerweise wäre ich in so einer Situation innerlich in einen Ausnahmezustand gekommen und hätte Panik gehabt und mich massiv überfordert gefühlt.
Gerade hatte ich das Gespräch und ich bin total begeistert: es ist das erste Mal in meinem Leben dass ich nicht innerlich Achterbahn und Panik empfunden habe. Es hat mich emotional gar nicht getriggert, sondern ich konnte freundlich, zugewandt und sachlich reden, argumentieren und meine Position/Meinung vertreten, auch wenn sie von der meines Vorgesetzen abwich. Ich bin so glücklich darüber!!!