Groll und Unversöhnlichkeit gegenüber einem Täter verhindern manchmal, dass es dem Opfer gut geht. Das entspricht dem Satz „Es geschieht meiner Mutter schon Recht, dass ich mir die Finger erfriere, warum hat sie mir keine Handschuhe gekauft“. Dann wird das eigene Leid zur Waffe gegen einen Täter, gegen den man sich anders nicht zu wehren weiss. So als könne man den Täter dadurch treffen, dass der eigene Körper leidet. Manche Therapeuten – besonders aus christlichen und esoterischen Kreisen – vertreten bisweilen die Auffassung, die einzige Lösung für den betroffenen Klienten bestehe darin, dem Täter zu verzeihen. Diese Auffassung löst jedoch nicht das Leid sondern kann wie ein erneutes Trauma wirken, so als müsse sich der Klient schon wieder einem Täter unterwerfen. Aus systemischer Sicht spricht die geschilderte Dynamik für eine fehlende gesunde Abgrenzung zum Täter, so als sei man selber ein Teil des Täters – oder dieser ein Teil von sich selbst. Genau diese fehlende Abgrenzung zum Täter ist ja aus therapeutischer Sicht die entscheidende Ursache für die Aspekte der Traumasymptomatik. Hass und Groll auf den Täter sind für ein betroffenes Kind die einzige Möglichkeit, sich gegen ein destruktives Elternteil zumindest symbolisch zu wehren – und daher gesund. Auch wenn das Kind deshalb Schulgefühle (gemacht) bekommt. Bleibt jedoch ein Erwachsener in Hass und Groll gefangen, dann kann das als Ausdruck einer typischen Überabgrenzung verstanden werden, wenn der Klient nicht gelernt hat sich gegenüber dem Täter erfolgreich zu wehren und gesund abzugrenzen.
Ein Fallbeispiel soll das verdeutlichen. Marta hat Hass auf ihren Vater, der sie seelisch und körperlich misshandelte. Es geht ihr gesundheitlich schlecht, in der Arbeit und in ihren Beziehungen erlebt sie immer wieder neue Verletzungen und Demütigungen. Eine Therapeutin forderte sie auf, dem Vater zu vergeben, nur dann könne es ihr besser gehen. Das verstärkte jedoch nur den Groll, jetzt auch noch auf die Therapeutin. Sie kommt zur Aufstellung und da zeigt es sich, dass sie den destruktiven Vater in ihrem Raum hat, als Introjekt, sozusagen als „Trojaner“. Mit anderen Worten sie hat diese Tendenz zur Zerstörung verinnerlicht, als gehöre das zu ihrer Identität. Zu diesem Aspekt der Selbst-Destruktion kommt noch ein anderer dazu, sie hasst sich selber wegen dieser Tendenz zur Selbstdestruktion. Ein Teufelskreis, aus dem sie selber nicht herausgefunden hat. Der Vorschlag der Therapeutin, dem Täter zu verzeihen, löste nichts an dieser Introjekt-Dynamik und fühlte sich für Marta wie eine zusätzliche Demütigung an. Mit der Methode der Selbstintegration wird ihr deutlich, dass die fehlende Abgrenzung zum Vater sich unter anderem darin zeigte, dass sie sich in seinem Raum vertraut fühlte, so als sei sie dort sicher (Identifikation mit dem Täter). Gleichzeitig befand sich der Vater als destruktives Introjekt in ihrem Raum, am Platz ihres Selbst. Diese beiden Aspekte erklären warum sie nicht mit ihren Selbstanteilen verbunden sein konnte (Abspaltung). Auf der symbolischen Ebene der Aufstellung gelingt es ihr, den Repräsentanten des Vaters, der in ihrem Raum den Platz ihres Selbst besetzt hatte, aus ihrem Raum zu stellen und an seine Stelle wider ihr Selbst zu stellen, dass unschuldig ist und sich erfolgreich wehren kann. Symbolisch gibt sie dem Vater das Schwere zurück, das zu ihm gehört und für das sie sich zuständig gefühlt hat. Und sie kann von ihm symbolisch das Schwere annehmen, das er ihr angetan hat, dass er nicht mehr ungeschehen oder wieder gut machen kann. Sie entscheidet sich, das als Herausforderung anzunehmen, an der sie wachsen kann. Um sich mit dem zu verbinden, was ihr Eigentliches ist, ihrem Selbst, muss sie sich noch symbolisch gegenüber dem Vater abgrenzen – und so ihren eigenen Raum in Besitz nehmen. Und sie kann in der „Gegenabgrenzung“ erfahren, dass sie in Vaters Raum nicht zuständig ist. Auch auf der „Zeitachse“ kann sie körperlich erfahren: „es gibt kein zurück, was vorbei ist ist vorbei.“ Und „es kommt auch nicht wieder.“ Danach fühlt sie sich gut, sie spürt jedoch, dass Vaters Nähe ihr nicht gut tut. Selbst wenn er sich diese Nähe wünscht, stimmt für sie der Satz: „Ich achte das Leben das ich durch dich habe, indem ich es schütze. Und ich schütze es auch vor dir.“ Durch diese Abgrenzung gegenüber dem Vater ist der Groll verschwunden. Sie fühlt sich frei. Sie ist nun versöhnt mit sich und mit ihrem Schicksal – und damit auch mit ihrem Vater. „Verzeihen“ ist nicht angemessen, da es nicht zu einer Lösung führt. Die innere Spaltung des Opfers ist nicht geheilt. Zusätzlich kann die Illusion genährt werden, das Opfer wäre dem Täter überlegen, oder das Geschehene könne dadurch ungeschehen gemacht werden. Das Geschehene kann nicht ungeschehen gemacht werden. Hass und Groll des verletzten Kindes waren dem Trauma angemessen, sozusagen „gesund“, es muss sich dafür nicht entschuldigen. Das sind die Umwege, die bisweilen erforderlich sind, um ein Ziel – hier die Versöhnung mit einem Täter-Vater – zu erreichen, das auf direktem Wege unerreichbar ist. Systemtherapie ist das Wissen um diese Umwege;-)
Anmerkung: Vermutlich besteht auch bei den Amoktätern, die z.B. in ihrer Schule einen – verhassten - Lehrer und dann sich und andere ermorden, eine ähnlich Dynamik. Wenn ein Lehrer sie real – oder in ihrer Wahrnehmung – demütigt und fertig macht, dann kann es sein, dass sie ihn als „Introjekt“ verinnerlichen. Und dann werden sie ihn nicht mehr los, dann haben sie ihn - und seine Kommentare - dauernd „im Kopf“. Und wenn sie keine andere Lösung finden, kommen sie auf die Idee, den Lehrer und sich selber umzubringen. Das wäre ein Grund, um Autonomietraining an Schulen als Lerninhalt zu etablieren, als Prophylaxe gegen Stress, Mobbing und Amoklauf.
grundsätzlich stimme ich dir hier zu. Eine falsch verstandene Art der Vergebung kann das Leiden eines Betroffenen verstärken. Wenn Vergebung aber bedeutet, dass ich den Widerstand gegen das, was mir an Unrecht widerfahren ist, aufgebe, kann das heilsam sein. Und das mache ich ja in erster Linie für mich selber und nicht für den Täter. Die Methode der Selbstintegration kann hier in der Tat sehr hilfreich sein, den Kampf gegen die eigene Vergangenheit endgültig und im Guten zu beenden.