AUTORITÄTSGEHORSAM konditioniert durch eine gefälschte Botschaft?
„Die extreme Bereitschaft von erwachsenen Menschen, einer Autorität fast beliebig weit zu folgen, ist das Hauptergebnis der Studie, und eine Tatsache, die dringendster Erklärung bedarf.“ „Ich bin sicher, dass es eine komplexe Persönlichkeitsbasis für Gehorsam und Gehorsamsverweigerung gibt. Aber ich weiss, dass wir sie noch nicht gefunden haben.“ „Dies ist ein fataler Defekt, den die Natur uns Menschen eingebaut hat, und auf lange Sicht läßt er unserer Art nur eine bescheidene Überlebenschance.“ (S. 216) Stanley Milgram, Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität, 1974
50 Jahre nach den Experimenten – ein Erklärungsversuch? Ein Lehrer, der die Menschen lehrte, dass sie – wie er selbst – ein Kind Gottes sind, und dafür von der römischen Macht verfolgt und zum Tod am Kreuz verurteilt wurde. Eine Gemeinschaft, die der eigenen Verfolgung dadurch zu entgehen glaubte, dass sie – in vorauseilendem Gehorsam gegenüber der römischen Macht - die Botschaft ihres Lehrers verfälschte. Die unheimliche Erfolgsgeschichte einer Überlebensstrategie: die Verfälschung erwies sich als sehr wirksam – und zugleich als nützlich für die römische Macht. Die Kirche berief sich auf die Botschaft Jesu, gleichzeitig hielt sie den „Gläubigen“ ihre Urschuld, ihre Verderbtheit und ihre Ohnmacht vor Augen, und stärkte dadurch die „Allmacht“ eines Gottes, der den Mächtigen dieser Welt seine Allmacht delegierte. Kirche und Macht verbündeten sich und verbreiteten diese verfälschte Botschaft über die ganze Welt.
VORWORT AN DIE LESER
Sie alle kennen die Botschaft Jesu, der die Menschen liebte, der zu den Benachteiligten und Ausgestossenen ging und ihnen die Liebe predigte – statt den Hass. Der den Menschen sagte, dass sie - wie er selber – ein Kind Gottes seien. Damit hat er sie an ihre „Erbwürde“ erinnert, die unverlierbar ist. Sie alle haben auch die Macht einer Kirche – der römischen, in abgeschwächter Form auch der protestantischen - gespürt, die sich auf die Botschaft Jesu beruft, die aber zugleich die Menschen lehrt, sie seien von Geburt an sündig, und sie würden nur dann von dieser „Erbsünde“ befreit, wenn sie sich in Gehorsam der Allmacht eines Gottes unterwerfen, der seinen „einzigen“ Sohn geopfert habe, um uns Menschen von unserer Sünde zu befreien. Manche von Ihnen, berührt durch die Liebes-Botschaft des „lebenden“ Jesus – vor seiner Verurteilung zum Kreuszestod - haben vielleicht bisher geglaubt, diese andere Botschaft der Kirche ertragen zu müssen – auch wenn sie unter ihr gelitten haben. Andere haben sich abgewendet von dieser kirchlichen Botschaft – abgewendet auch von dem Gottes- und Menschen- Bild, das sie vertritt. Und nicht selten haben sie dabei auch einen Bezug zur Botschaft des lebenden Jesus verloren. Zweitausend Jahre Konditionierung durch diese doppelte Botschaft der Kirche hat Sie alle, die einen wie die anderen, unbewusst geprägt durch das Zerr-Bild eines Menschen, der von Geburt an schuldig ist, dessen Natur verderbt ist, und der nur erlöst werden kann, wenn er diese verderbte Natur in sich unterdrückt, um sich ganz diesem Gott zu unterwerfen, wie ein „corpo muerto“, ein willen-loser Körper. Durch das Zerr-Bild eines Gottes, der seinen einzigen Sohn opfert, um diese „Erbsünde“ der Menschen zu tilgen.
Diese „doppelte Botschaft“ der Kirche wirkt in den Menschen des Abendlandes weiter. Sie hat – so die hier vertretene These – ihre Selbstachtung beschädigt und ihre Wahrnehmung von Recht und Unrecht vernebelt, und so zur Entwicklug eines fatalen „Autoritätsgehorsams“ beigetragen.
Dank dieser Konditionierung trauen die Menschen ihrer eigenen Wahrnehmung, ihrem eigenen Verstand nicht mehr. Statt dessen verlassen sie sich auf einen „allmächtigen“ Gott, auf eine Kirche, die sich auf diesen „Allmächtigen“ beruft, und auf die Mächtigen dieser Welt. Das waren früher die Fürsten und Könige, heute sind es die Politiker und die Großkonzerne. Immer noch sind sie unbewusst geprägt vom Gefühl der eigenen – von der Kirche verkündeten - Unwürde und Ohnmacht. So tragen sie selber zur Macht der Mächtigen bei. Anstatt sich zusammen zu schliessen und gemeinsam gegen das Unrecht anzugehen, sehen sie verwirrt und hilflos zu wie diese Mächtigen zunehmend diese Welt mit ihrer Schönheit zerstören. Wie diese Mächtigen andere Menschen ausbeuten, demütigen, sie in Hunger, Verteilungskriege und Krankheit geraten lassen, nur um ihre eigene Macht, um ihren Gewinn zu erhalten und noch zu vergrössern.
Die hier vertretene Thesen sind geeignet, diese Verwirrung zu beseitigen, den Nebel zu lüften, der durch eine kollektive Konditionierung entstanden ist. Die These dieses Buches ist: Wenn Sie es wagen, ihrer eigenen Wahrnehmung wieder zu trauen, wenn sie das Gefühl aushalten, dabei etwas Verbotenes zu tun, dann können Sie erkennen: dass die Kirche – um zu überleben? um „Staatskirche“ werden zu können? - die Botschaft des „lebenden“ Jesus ind Gegenteil verkehrt hat. Dass das von ihr vertretene Menschen- und Gottes-Bild „toxisch“ ist, indem es Generationen von Betroffenen zu einem Autoritätsgehorsam konditioniert hat. Vorsicht! Vielleicht haben die Angst vor Höllenstrafe und Schuldgefühlen Sie bisher daran gehindert, diese Doppelte Botschaft der Kirche zu erkennen, und sich gegen das Unrecht der Mächtigen zu wehren. Das Buch kann für Sie gefährlich sein. Diese Thesen sind nichts für Menschen, die in einer persönlichen Krise ihren Halt bei der Kirche, bei einem kirchlich geprägten Kollektiv suchen. Sie riskieren dadurch, traumatisiert zu werden, indem das in Frage gestellt wird, von dem sie glauben, dass es Ihnen Halt gibt. Und sie werden vielleicht erleben, dass ihr Kollektiv, das ihnen bisher Rückhalt und Identität gegeben hat, sich von Ihnen abwendet und sie verurteilt. Andrerseits könnte dies Buch sie dabei unterstützen, die eigentliche Botschaft des „lebenden“ Jesus besser wahrzunehmen. Auf diesen Konflikt müssten Sie innerlich gefasst sein.
Und es kann auch denen eine Orientierung geben, die sich schon lange von der Kirche abgewendet haben, und die heute mehr als früher, unter der zunehmenden globalen Verwirrung und Zerstörung leiden und eine neue Orientierung suchen. Vielleicht entdecken Sie, dass auch sie noch durch diese „kollektive Konditionierung“ geprägt sind. Das gäbe Ihnen die Chance, sich aus „gelernter“ Hilflosigkeit und Lähmung zu befreien und ihre Kraft und Handlungsfähigkeit wieder zu gewinnen. Und sie können Ihren Kindern und Enkeln in die Augen schauen, wenn diese Sie einmal fragen: was hast du damals getan, als dies Unrecht geschah, das unsere Lebensgrundlagen zerstört hat?
München 27.6.2016
ERBSÜNDE – ODER ERBWÜRDE DAS GEHORSAMSPROGRAMM DER LÖSUNGS-CODE
EINFÜHRUNG Natur-Idylle Gerade komme ich vom morgendlichen Joggen im englischen Garten zurück. Morgensonne, der Gesang der Vögel.. Der Bärlauch blüht, die weissen Blüten schauen aus wie sich entfaltende Silvesterraketen. Der Duft nach Knoblauch... Über der Wiese noch Nebelschwaden und beim Laufen werden im Morgennebel immer deutlicher: eine Schafherde. Das Blöken der jungen Lämmer. Der strenge Geruch des Schafkots... Der Kontrast zwischen dieser morgendlichen Idylle und den täglich eskalierenden globalen Katastrophen könnte nicht grösser sein. Unvermeidlich tauchen dadurch Fragen auf – und Hypothesen.
Realität der globalen Selbst-Zerstörung.. Täglich lesen und hören wir von Klimaveränderungen, Umweltzerstörung, Eskalation der Kriege, Hungersnöte und Migration. Weniger dramatisch, aber ursächlich beteiligt: unser Finanz- und Wirtschaftssystem. Warum lassen Bankkonzerne ihre Angestellte toxische Papiere verkaufen – und schädigen dadurch die Kunden, und riskieren damit einen Bankencrash? Warum bauen VW-Ingenieure in die Dieselmotoren eine betrügerische Software ein, und schädigen dadurch den Kunden – und letzlich den eigenen Konzern?
...und das Schweigen der Öffentlichkeit Und warum lässt die Öffentlichkeit dies zu? Warum protestiert sie nicht dagegen, dass ein luxemburgischer Finanzminister den Großkonzernen „legale“ Wege öffnet, um die Steuern einzusparen, die sie anderen Länder schulden, und die diese dringend benötigen, um ihre Kosten zu decken? So fehlen den Gemeinden die Mittel, um Krankenhäuser, Schulen, Schwimmbäder, Straßen instand zu halten. Nur ein Beispiel: 25% der Schulkinder lernen nicht mehr schwimmen – weil das Geld fehlt, um die Schwimmbäder zu erhalten! Und warum wird der „Whistleblower“, der das öffentlich gemacht hat, vor Gericht gestellt, wegen „Geheimnisverrat“ - während der Verantwortliche zum Präsidenten der europäischen Kommission gewählt wird? Angenommen ein Ausserirdischer käme zu Besuch: wie wollten wir ihm erklären, dass Menschen soviel Macht haben, die Welt und uns selbst zu zerstören, und dass wir so hilflos sind, um das zu verhindern? Ein zentraler Aspekt dieser Zerstörung scheint mir darin zu liegen, dass viele sich hilflos und abhängig fühlen und daher bereit sind, sich dem Willen einiger weniger Mächtiger zu unterwerfen. Diese Bereitschaft zum Gehorsam gegenüber der Macht wird uns im Folgenden beschäftigen.
Selbstregulation in der Natur In der Natur gibt es das Prinzip der Selbstregulation, es steuert das Zusammenleben innerhalb einer Art. Bei den gesellig lebenden Dohlen gibt es eine Rangordnung. Da Dohlen in sehr stabilen Paarbeziehungen leben, ergeben sich da bemerkenswerte Veränderungen in der Rangordnung. Die Rangfolge bewirkt diese Rangordnung, dass eine Dohle gegenüber einer unmittelbar im Rang nach ihr stehenden Dohle stärkere Tendenz hat, ihre Dominanz zu zeigen, als gegenüber einer im Rang weit nach ihr stehenden. Bei einem Konflikt zwischen zwei Dohlen (z.B. Nr. 6 und Nr. 8) dann wirkt das wie eine kollektive Selbstregulation: eine ranghöhere Dohle (Nr. 4) wird eher Nr. 8 unterstützen als Nr. 6. Für die Selbstregulation zwischen Tieren ist das Beispiel Füchse und Mäuse bekannt: nimmt die Mäusepopulation zu, dann wachsen mehr Füchse heran, die zur Verminderung der Mäuse beitragen. Und umgekehrt.
Selbstregulation gibt es aber auch zwischen Pflanzen und Tieren! Pflanzen sind gar nicht so wehrlos, wie wir denken. Wird zum Beispiel eine Kleewiese von zu vielen Schafen überweidet, dann produziert sie chemische Stoffe, welche die Vermehrung der Schafe wirksam verhindern, nach dem Prinzip der „Anti-Baby-Pille“! Die Oder wenn Kudu-Antilopen künstlich in einem zu kleinen Areal gesperrt werden und dadurch zu intensiv die Blätter und Zweige ihres „Lieblingsbaums“ abweiden, dann entwickelt dieser sehr rasch giftige Bitterstoffe, welche den Tod der Kudus herbeiführen. Und: diese Bäume senden sogar entsprechende „Botschaften“ an bisher noch unbetroffene Bäume ihrer Art, sodass diese ebenfalls Bitterstoffe entwickeln – sozusagen vorbeugend! Diese Selbstregulation – so scheint es – regelt das Zusammenleben unterschiedlicher Arten und Gruppen und dient damit dem Überleben aller Beteiligten.
Selbstregulation des Menschen? Es ist offensichtlich, dass der (heutige?) Mensch nicht (mehr?) in eine derartige Selbstregulation einbezogen ist. Seine Intelligenz hat es ihm möglich gemacht, die Selbstregulation der Natur da auszuschalten, wo diese seinen vordergründigen Zielen und Absichten im Wege steht. Und sein vordergründiges Ziel scheint zu sein, seine individuelle und kollektive Macht zu erhalten und zu vergrössern. Dafür nimmt er die Schädigung, ja sogar die Zerstörung andere Menschen, der Natur, der Umwelt, des Klimas in Kauf. Anscheinend fehlt dem Menschen die Intelligenz, um zu erkennen, wie selbstzerstörerisch sein Verhalten ist? Oder fehlt ihm ein Orientierungs-Organ, das ihn immer spüren lässt, wie sehr sein eigenes Überleben – und das seiner Kinder – von der Erhaltung der Natur, von einem friedlichen Ausgleich zwischen Menschen untereinander und im Verhältnis zur Natur ist. Oder besitzt er ein eigenes Organ der Selbstregulation, das durch kollektive Konditionierung blockiert ist? Vielleicht ist dies Organ sein eigenes „Selbst“, dem er sich hat entfremden lassen? Genauso offensichtlich ist, dass auch das Zusammenleben zwischen Menschen nicht mehr von einer Selbstregulation bestimmt wird, die allen die Möglichkeit gibt zu leben. Demokratie wäre eine geeignete Form einer solchen Selbstregulation. Die verbreitete Maxime einer „marktkonformen Demokratie“ jedoch lässt Demokratie zur Farce verkommen. Sie wird zum Feigenblatt, wird missbraucht, um zu verschleiern, wie stark die Allmacht der Mächtigen und die Gehorsamsbereitschaft der Ohnmächtigen ist. Die hier skizzierte Tendenz zur zerstörerischen Wirkung einer Gehorsamsbereitschaft ist nicht neu. Ein besonders schreckliches Beispiel war die mit industrieller Perfektion durchgeführte Massenvernichtung von Millionen europäischer Juden durch das deutsche Nazi-Regime. Es gab – vor 50 Jahren! - ein berühmtes, sehr gründliches Experiment zum Phänomen dieses Autoritätsgehorsams.
DER HOLOCAUST UND DAS MILGRAM-EXPERIMENT Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität Mit diesem Titel hat der amerikanische Psychologe Stanley Milgram ()ein umfangreiches Experiment durchgeführt, das Wesentliches zu unserem Thema beiträgt. Milgram war ein sehr mutiger Mann. Obwohl seine Experimente nicht zu den von den Experten erwarteten Ergebnissen führten, hat er sie – anders als die meisten marktorientierten Forscher z.B. der Pharmaindustrie! - weiter geführt. Da war er selber nicht gehorsam sondern sehr autonom! Er hat 10 Jahre gebraucht, um seine Ergebnisse zu formulieren. Angefeindet von seinen Kollegen, starb er bereits mit 51 Jahren an einem Herzinfarkt. Ich fühle mich diesem Mann sehr verbunden. Er ist 8 Jahre vor mir geboren und wäre heute 83!
EXKURS: DAS MILGRAM – EXPERIMENT Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität 1961 hat Milgram mit seinen Experimenten zum Autoritäts-Gehorsam begonnen. Unter dem Eindruck der Prozesse gegen Nazi-Täter, speziell gegen Eichmann, wollte er die Frage klären, warum anscheinend „normale“ Menschen unter den Bedingungen einer autoritären Organisation in der Lage sind, anderen unschuldigen Menschen Schaden zuzufügen. Er vermutete zunächst – wie viele andere auch – dass dieser Autoritätsgehorsam ein eher deutsches Problem sei. Daher plante er, das Experiment zunächst in USA durchzuführen, und dann – zum Vergleich – in Deutschland. Das Experiment Den Versuchspersonen (Vpn) wurde erklärt, dass sie als „Lehrer“ an einem wissenschaftlichen Experiment teilnehmen, es solle untersucht werden, ob sich der Lernerfolg steigern lasse, wenn die Testpersonen („Schüler“) bei falschen Antworten durch Stromstösse „bestraft“ werden. In Wirklichkeit waren die „Schüler“ Schauspieler, die Stromstösse waren fiktiv und die Schmerzreaktionen der „Schüler“ klangen zwar sehr realistisch, waren aber ebenfalls gespielt und auf Tonband gespeichert. Getestet werden sollten folglich nicht die „Schüler“ sondern die Versuchspersonen selber, und zwar ob und wieweit sie als „Lehrer“ bereit waren, die Stromstösse zu steigern, trotz der Schmerzreaktionen der „Schüler“. Ein Versuchsleiter („Experimentator“, auch ein Schauspieler) gab dazu Anweisungen. Diese Versuchsanordnung wurde in verschiedenen Variationen durchgeführt. Egebnisse Zu dem Experiment in Deutschland kam es nicht, denn schon das Experiment in USA ergab einen schockierenden Befund: 65% der Probanden waren bereit, unschuldigen „Schülern“ in einem „wissenschaftlichen Lernexperiment“ „gesundheitsschädliche Stromstösse“ zu verabreichen. Milgram beschreibt in vielen Beispielen die Reaktionen der Probanden. Manche führten die Bestrafung der „Schüler“ durch Elektroschock ohne sichtbare Gemütsbewegung durch. Viele reagierten sehr emotional, sie bekamen Schweissausbrüche, sie lachten unmotiviert. Einige formulierten sehr präzise, dass sie persönlich diese Experimente ablehnen und so etwas von sich aus nie machen würden. Aber sie folgten dennoch den Anweisungen des Experimentleiters – so als hätten sie keine wirkliche Wahl! Dabei wurde keinerlei Druck ausgeübt. Dazu Milgram (S.11) Unsere Untersuchungen befassen sich ausschliesslich mit der Form des Gehorchens, die ein Mensch von sich aus entgegen bringt ohne die geringste Anwendung von Druck und Drohung. Bei unserem Experiment handelt es sich allein um solchen Gehorsam, den eine Autorität durch die schlichte Behauptung auslöst, sie besitze das Recht, über einen Beteiligten die Kontrolle auszuüben. Der ganze Zwang, den die Autorität – wenn überhaupt – in unseren Versuchen ausübt, ergibt sich aus Machtfaktoren, mit welchen die Versuchsperson gewissermassen die Autorität ausstattet, und nicht aus irgendwelchen objektiv vorhandenen Drohungen oder der etwaigen Verfügung über greifbare Machtmittel zur Disziplinierung der Versuchsperson. Unter den Probanden, die den Gehorsam verweigerten, war – ausgerechnet! – eine Deutsche, Gretchen Brandt medizinische Assistentin. Sie war in Nazi-Deutschland gross geworden und erst vor wenigen Jahren eingewandert. Als er sie befragte, warum sie abgebrochen hat, meinte sie: „Vielleicht haben wir zuviel Qual gesehen.“(S. 104)
Milgram war selber von diesem Ergebnis schockiert, das hatte er nicht erwartet. Deshalb wiederholte er das Experiment und veränderte die Parameter. Doch das Ergebnis blieb dasselbe. Wiederholungen des Experimentes in anderen Ländern ergaben im Wesentlichen den gleichen Befund.
Milgram vermutete, dass Autoritätsgehorsam und dessen Verweigerung durch Persönlichkeitsmerkmale oder die Lebensumständer der Probanden bedingt sind, aber er konnte dies nicht belegen. Stattdessen ging er von zwei unterschiedlichen „Funktionszuständen“ aus, die er so umschrieb: ein Zustand der Autonomie, in dem das Individuum sich als für seine Handlungen verantwortlich erlebt, und ein „Agenten-Zustand“, in den das Individuum durch den Eintritt in ein Autoritätssystem versetzt wird und nicht mehr aufgrund eigener Zielsetzungen handelt, sondern zum Instrument (zum „Agenten“) der Wünsche anderer wird. Ausgehend vom Freud'schen Instanzenmodell vermutete er, dass im Autonomie-Zustand die Betroffenen mit ihrem „Über-Ich“ (Gewissen) verbunden sind und dass im Agenten-Zustand an die Stelle des „Über-Ich“ die Autoritätsperson tritt. Der unerwartete Befund seiner Experimente: ca. 65% der Probanden wechselten in den „Agenten-Zustand“ und unterwarfen sich der Autorität – trotz z.T. heftiger innerere Konflikte! Nur ca. 35% verblieben im Autonomie-Zustand und verweigerten der Autorität den Gehorsam! Auch die Fachkollegen waren geschockt. Viele machten Milgram Vorwürfe, sein Experiment habe die Probanden traumatisiert, es sei unethisch und unwissenschaftlich. Dazu die Stellungnahme des bekannten Hypnotherapeuten Milton Erikson: “Daß die Pionierarbeit (Milgrams) auf diesem Gebiet als unmoralisch, nicht zu rechtfertigen, informatorisch wertlos und mit anderen abfälligen Äußerungen angegriffen wurde, war zu erwarten, einfach deshalb, weil die Menschen vor unerwünschtem Verhalten gern die Augen schließen und es vorziehen, das Gedächtnis zu erforschen, indem sie sinnlose Wörter lernen lassen... Milgram liefert einen gewichtigen und gehaltvollen Beitrag zu unserem Wissen vom menschlichen Verhalten... Sich mit Untersuchungen zu befassen wie die, die Milgram unternahm, das erfordert starke Männer mit starker wissenschaftlicher Überzeugung und einer Bereitschaft, zu entdecken, daß die Verantwortung für und die Kontrolle über inhumane Handlungen beim Menschen selbst liegt, und nicht beim ́Teufel ́.
Milgrams eigene Interpretation: „ Ich habe dies Experiment durchgeführt, um herauszufinden, wie viel Schmerz ein gewöhnlicher Mitbürger einem anderen zufügen würde, einfach weil ihn ein Wissenschaftler dazu aufforderte. Starre Autorität stand gegen die stärksten moralischen Grundsätze der Teilnehmer, andere Menschen nicht zu verletzen, und obwohl den Testpersonen die Schmerzensschreie der Opfer in den Ohren klangen, gewann in der Mehrzahl der Fälle die Autorität. Die extreme Bereitschaft von erwachsenen Menschen, einer Autorität fast beliebig weit zu folgen, ist das Hauptergebnis der Studie, und eine Tatsache, die dringendster Erklärung bedarf.“ Diese Forderung Milgrams wurde erstaunlicherweise bisher nicht erfüllt! Wirkt da ein Tabu? Ein Wahrnehmungsverbot?
DIE URSACHE DES AUTORITÄTSGEHORSAMS? Angeboren – oder Anerzogen? Bisher ist es nicht gelungen, eine Erklärung für diese Befunde zu finden, dabei ist diese Frage angesichts der globalen Krise heute von höchster Dringlichkeit. Entscheidend ist die Frage: ist dies Verhalten angeboren – und damit nicht zu ändern - oder ist es anerzogen. Das böte zumindest eine Chance der „Umerziehung“. Milgram selber scheint zu der ersten Deutung zu neigen, wenn er schreibt: „Dies ist ein fataler Defekt, den die Natur uns Menschen eingebaut hat, und auf lange Sicht lässt er unserer Art nur eine bescheidene Überlebenschance.“(Milgram S. 216) Angeboren? Gegen die These, dies Verhalten sei angeboren, d.h. in den menschlichen Genen verankert, möchte ich folgendes Argument anführen: die Vision-Quest. Die Indianer Nordamerikas kannten das Initiations-Ritual der Vision-Quest: die jungen Clanmitglieder mussten einige Tage alleine in der Wildnis überleben. Dabei hatten sie äussere und innere „Begegnungen“. Zurück im Clan deuteten ihnen die Ältesten die Bedeutung dieser Erfahrungen und gaben ihnen ihren Namen. Dieser Name betonte die Identität und die Autonomie des Einzelnen. Sie unterstützte dadurch seine Fähigkeit, in einer kritischen Situation nach seiner eigenen Einsicht zu entscheiden. Diese Fähigkeit wurde von dem Clan gezielt gefördert, denn sie war für das Überleben des Clans in einer gefährlichen Umwelt erforderlich.
oder Anerzogen? Milgram schreibt (S. 234): Die Ergebnisse, wenn sie auch im allgemeinen blass sind, wiesen in folgende Richtungen. Republikaner und Demokraten waren im Gehorsamsniveau nicht signifikant verschieden. Katholiken waren gehorsamer als Juden und Protestanten..... Diese Spur hat Milgram nicht nicht weiter verfolgt! „Je länger jemand beim Militär gedient hatte, desto höher war seine Gehorsamsbereitschaft, mit der Ausnahme, dass ehemalige Offiziere – ungeachtet der Länge ihrer Dienstzeit – weniger gehorsam waren als einfache Mannschaftsgrade..... Ich bin sicher, dass es eine komplexe Persönlichkeitsbasis für Gehorsam und Gehorsamsverweigerung gibt. Aber ich weiss, dass wir sie noch nicht gefunden haben.“(S. 234) Und an anderer Stelle: „Obwohl viele Versuchspersonen die intellektuelle Entscheidung treffen, dem Schüler nicht weiter Schocks zu verabreichen, sind sie doch oft nicht in der Lage, diese Überzeugung in Aktion zu übersetzen. Wenn man sie im Labor beobachtet, kann man ihren heftigen inneren Kampf, sich der Autorität zu entziehen, nachempfinden, während sie durch zwar mangelhaft definierte, aber starke Bande am Schockgenerator festgehalten werden.“ (S. 173)
Milgram beschreibt hier sehr präzise ein Phänomen der inneren Zerrissenheit zwischen einer kognitiven Einsicht und einem starken Gefühl, welches die Umsetzung dieser Einsicht verhindert. Dies Phänomen ist in der Psychotherapie bekannt als Konditionierung bzw. als konditioniertes Verhalten.
EXKURS: KONDITIONIERUNG UND DEKONDITIONIERUNG Erworbene, unbewusste Verbote Als systemischer Psychiater studiere ich seit 40 Jahren die Entstehungsbedingungen menschlichen Leids - und menschlichen Glücks. Dabei wurde mir deutlich: Glück und Zufriedenheit eines Menschen hängen nicht von seinem Besitz ab. Wenn seine Grundbedürfnisse – Nahrung, Wohnung, Kontakt – befriedigt sind, dann hängt sein Glück davon ab, dass er sein Leben nach seinen eigenen Vorstellungen und Überzeugungen gestalten kann. Autonomie, das heisst selbstbestimmtes Leben erfordert Unterscheidung zwischen Eigenem und Fremden, und Abgrenzung gegenüber dem, was nicht das Eigene ist, und Wertschätzung für das Eigene, das Selbst. Dann erst entsteht ein innerer Raum, in dem sich das „Selbst“, das uns die Natur als etwas Einmaliges geschenkt hat, entfalten kann. Mit diesem Selbst verbunden, bin ich orientiert und handlungsfähig. Trotz Aufklärung und allen Befreiungsbewegungen ist die Tendenz zur Selbst-Entfremdung, zu einer „Selbst“-losen Unterwerfung unter eine Obrigkeit noch sehr verbreitet, ja sie nimmt wieder zu.
Konditionierung durch frühe traumatische Erfahrungen In der Therapie erlebe ich täglich: Wenn einem Kind vermittelt wird, es sei selber nicht liebenswert, oder es dürfe sich nicht abgrenzen („Nein“-sagen), dann lernt es, sich in anderen Räumen zuständig zu fühlen, sich für fremde – statt für eigene – Interessen einzusetzen, oder dem anderen seinen eigenen Raum zu Verfügung zu stellen, als habe er ein Recht dazu. Diese frühen Konditionierungen bewirken eine Selbst-Entfremdung und eine Tendenz, sich fremden Autoritäten zu unterwerfen. Durch Systemaufstellungen ist es möglich, seinen Platz im Familiensystem zu finden: nicht selten steht man am fremden Platz z.B. eines früh verstorbenen Angehörigen der Eltern – und kann deshalb nicht bei sich sein. Wenn ich den Klienten zusätzlich einen Repräsentanten für sein Selbst aufstellen lasse, dann wird das Ausmass und die Ursache der Selbst-Entfremdung sichtbar. Das macht es möglich, diese Zusammenhänge zu studieren und die Konditionierungen bewusst zu machen und durch gezielte Interventionen zu lösen.
Wie kommt es zur Konditionierung? Wenn Eltern infolge unverarbeiteter eigener Traumata nicht „bei sich“ sind, dann können sie ihr Kind nicht als etwas Eigenständiges und Einzigartiges wahrnehmen und willkommen heißen. Sie können die Grundbedürfnisse des Kindes nach Nähe und Wärme – entsprechend dem „kindlichen Selbst“ – bzw. seine Autonomiebewegungen – entsprechend dem „erwachsenen Selbst“ – nicht als etwas Wertvolles wahrnehmen und freundlich unterstützen. Im Gegenteil, wenn ein Kind „Nein“ sagt, sich abgrenzen möchte gegenüber den Eltern, dann fühlen diese sich dadurch bedroht, ziehen sich emotional zurück („Liebesentzug“), machen dem Kind Schuldgefühle („da wird die Mama aber ganz traurig“). Oder sie werten diese Bedürfnisse ab, als falsch als egoistisch, als böse. Das ist für das Kind existenziell bedrohlich und löst massive Verlassenheits- oder Todesängste und / oder Schuldgefühle aus. Um zu überleben, lernt das Kind schon sehr früh, die „unerwünschten“ eigenen Bedürfnisse und Impulse nach Zuwendung und Wärme („kindliches Selbst“), nach Abgrenzung und Selbstbestimmung („erwachsenes Selbst“) zu unterdrücken, „abzuspalten“, so als sei Abgrenzung gegenüber den Eltern und deren Bedürfnissen und die Verbindung mit den „Selbst“-Anteilen (eigenen Grundbedürfnissen) bedrohlich und gefährlich! Für dieses Phänomen hat der Neurobiologe Gerhard Roth folgende Erklärung gefunden: „Viele dieser emotionalen Konditionierungen passieren also in einer Weise, die uns nicht oder erst nachträglich bewusst ist. Zum Teil finden sie in einer Zeit statt, in der wir noch gar kein oder kein erinnerungsfähiges Bewusstsein haben, nämlich im Mutterleib oder in den ersten Tagen, Wochen und Monaten nach unserer Geburt. Unser (...) zu bewusster Erinnerung fähiges Gedächtnis (...) ist noch nicht so ausgebildet, dass ein längerfristiges Erinnern möglich ist – dies nennt man mit Siegmund Freud „infantile Amnesie“, die erst mit zweieinhalb bis drei Jahren beendet ist. Vor dieser Zeit lernt bereits unser limbisches emotionales Gedächtnis (...), was in unserer Umgebung (d.h. schon im Mutterleib) und an eigenen Handlungen (...) gut oder schlecht, lustvoll oder schmerzhaft, angenehm oder unangenehm ist. Besonders verhängnisvoll sind hierbei die stark negativen und traumatisierenden Erlebnisse. Indem bestimmte Geschehnisse, einschließlich unserer eigenen Handlungen im limbischen Gedächtnis mit positiven oder negativen Gefühlen fest verbunden werden, erhalten sie eine Bewertung, und diese Bewertung trägt zu der Entscheidung bei, ob irgendetwas noch einmal getan oder gelassen werden soll. Dies erleben wir, sobald wir älter geworden sind, als Gefühle, die uns raten, etwas zu tun oder zu lassen.“ Diese Gefühle sind verwirrt, sind Folge einer frühen traumatischen Erfahrung von Trennung oder von Gewalt. Sie wirken wie unbewusste Verbote, und deshalb bezeichne ich sie auch so. In meiner Arbeit habe ich unterschiedliche Verbote beobachtet: Abgrenzungsverbot, Aggressionsverbot, bisweilen ein Autonomie- oder Identitätsverbot, beziehungsweise ein Verbot, eine Grenze, einen Unterschied überhaupt wahrzunehmen! Dazu noch einmal Gerhard Roth11:„(...) Die Amygdala vergisst nicht! Damit ist gemeint, dass es – nach allem, was man aus neurobiologischer Sicht weiß – keine wirkliche Löschung einmal konditionierter Erfahrungen gibt, sondern lediglich ein Neu-Lernen an (...) Dies ist auch für die Möglichkeiten und Grenzen der Psychotherapie ein wichtiger Umstand!“ Einerseits stimme ich Roth zu: Mit einer unvorstellbaren Macht bestimmen diese unbewussten Verbote unser inneres Beziehungsbild, und damit unsere Entwicklung und unser Verhalten. Sie prägen alle unsere Beziehungen, unsere Identität, unsere Autonomie – ohne dass uns das bewusst wird. Roths skeptische Einstellung gegenüber Psychotherapie möchte ich jedoch in Frage stellen. Im Prozess der systemischen Selbstintegration werden diese Verbote aktiviert, im Aufstellungsbild sichtbar und erst dadurch dem Klienten bewusst. Jetzt kann er die Verwirrung seiner Gefühle erkennen – nach denen er sich bisher orientiert hat! Er erlebt das gleiche Dilemma wie Milgrams Versuchspersonen: die Diskrepanz zwischen seiner Einsicht und dem unbewussten Verbot, sich abzugrenzen. Und das gibt ihm die Chance, sich bewusst entgegengesetzt zu diesen Verboten zu verhalten. Dabei macht er die Erfahrung, dass er stärker ist, als diese Verbote aus der Kindheit. Und dass er, statt wie damals als Kind abgelehnt und verlassen zu werden, sich heute frei und unabhängig fühlen kann. Frei für die Verbindung mit dem, was er eigentlich ist: mit seinem Selbst. Das folgenden Beispiele sollen das verdeutlichen.
Fallbeispiel Konditionierung Ein Paar, beide um die 35 Jahre, die Frau ist im 4. Monat schwanger, kommen zur Beratung, weil sie ihre sehr symbiotische (unabgegrenzte) Beziehung durch die bevorstehende Geburt eines Kindes herausgefordert sehen. Die Frau klagte darüber, dass ihr Mann so unselbständig sei und sich nur nach ihr orientiere, das mache sie ganz schwach.
Vorgeschichte: Er wurde als Kind extrem von seiner Mutter bestimmt. Sie wertete seine eigene Wahrnehmung, seine eigenen Interessen und Gefühle als falsch und verboten ab. So bewirkte sie, dass er lernte, seine eigenen Selbst-Anteile abzuspalten. Ohne eigene Orientierung war er gezwungen, sich nach anderen zu orientieren. Zunächst war das seine Mutter.
Aufstellung: in der Aufstellung zeigte es sich, dass nun seine Frau in seinem Raum stand, an der Stelle seines – abgespaltenen – Selbst. Ihm gefiel das so. Ohne eigene Orientierung konnte er sich nach ihr orientieren und hatte zudem die Illusion, dass es dadurch keine Konflikte geben würde – was seiner geringen Konflikt-Toleranz entgegen kam. Paradoxerweise fühlte sich aber auch seine Frau – entgegen den anfänglichen Beteuerungen, dadurch schwach zu werden – an diesem Platz wohl. Sie hatte wenig Vertrauen zu der Selbst-Verbindung ihres Mannes – nicht ganz zu Unrecht, wie wir wissen – und glaubte für ihn und für ihre Beziehung etwas Gutes zu tun, wenn sie sich ihm zur Orientierung zu Verfügung stellte – sozusagen als Ersatz für das anscheinend abwesende eigene Selbst. Auch sie hatte als Kind gelernt, sich für andere zuständig zu fühlen, so als wäre sie nur dann etwas wert, wenn sie gebraucht wird, oder besser noch, wenn sie unentbehrlich für den anderen ist. Erst die Intervention des Therapeuten machte sie stutzig: wenn sie sich nur dann gut fühlt, wenn sie sozusagen „Prothese“ für den anderen ist, dann verstärkt sie ja dessen Tendenz, unselbständig oder gar „behindert“ zu werden. So hatten beide gegenseitig ihre Tendenz zu Abhängigkeit verstärkt und waren in die Falle der Koabhängigkeit geraten. Kommentar: Hier wird die fatale Wirkung einer Selbst-entfremdenden Konditionierung in der Kindheit sichtbar: die Tendenz, sich nicht nach dem eigenen (abgespaltenen) Selbst zu orientieren, sondern nach einer Autoritätsperson – hier dem Partner. Auf der symbolischen Ebene der Systemaufstellung wird diese unbewusste Dynamik sichtbar: die Frau steht im (Identitäts) -Raum des Mannes und beeinträchtigt so dessen – ohnehin schwache - Verbindung zu seinem eigenen Selbst. Sie wird zum „Introjekt“, zum „Trojaner“ der das eigene „Programm“ des Mannes stört. Die Parallele zu Milgrams eigenem Konzept ist deutlich: was hier als „Selbst“ bezeichnet wird ist bei Milgram das „Über-Ich“ nach Freud.
Fallbeispiel Dekonditionierung Eine taffe ca. 35jährige Geschäftsfrau klärte ihre Beziehung zu ihrer Mutter, mit der sie symbiotisch verschmolzen war, und daher eine ausgeprägte Hemmung ihrer Abgrenzung zu ihr und zu anderen Personen hatte. Im Abgrenzungsritual konnte sie das unbewusste Abgrenzungsverbot bewusst übertreten und ihre vitale Kraft in der Abgrenzung zur Mutter einsetzen. Beim nächsten Termin erzählt sie, dass sie in der Zwischenzeit bei einer bekannten Person des öffentlichen Lebens eingeladen war. Bei der letzten Einladung hatte sie der Gastgeber den Gästen als „die frühere Freundin von Herrn XY“ vorgestellt. Das hatte sie sehr gekränkt, aber sie konnte dem nichts entgegnen. Jetzt stand sie auf einmal vor ihm und hörte sich zu ihm sagen: „Wenn du mich diesmal nicht mit meinem Namen vorstellst, dann trete ich dir so auf deinen Fuß, dass du drei Tage an mich denken wirst!“ Der Gastgeber – und sie nicht weniger – waren beide von dieser spontanen Reaktion sehr überrascht! Aber es wirkte! (Aus: Langlotz Symbiose in Systemaufstellungen, mehr Autonomie durch Selbstintegration, Springerverlag, August 2015)
In den letzten Jahren wurde mir immer deutlicher, dass die Autonomie-Entwicklung nicht nur durch individuelle frühe Erfahrungen von Verlust und Gewalt blockiert werden kann, sondern auch durch autoritäre Strukturen der Familie. Darüber hinaus können auch andere kollektive Machtstrukturen die Autonomie-Entwicklung des Menschen beeinträchtigen, und damit sein Bereitschaft zum Autoritätsgehorsam fördern können. Diese „kollektive Konditionierung“ findet statt in der Schule, beim Militär, aber auch am Arbeitsplatz.
KIRCHE UND KOLLEKTIVE KONDITIONIERUNG
Auf der Suche nach den Ursachen dieser kollektiven Selbst-Entfremdung dürfen wir auch vor Tabus nicht zurückschrecken. Wenn wir diesen kritischen Blick wagen, dann erscheint hinter den bereits genannten autoritären Strukturen eine andere „altehrwürdige“ Institution: die christliche – vor allem die römische - Kirche. Wer hätte die Ursache für diese Konditionierung zur Selbstzerstörung im „Allerheiligsten“ der abendländischen Tradition, in der „frohen Botschaft“ des Evangeliums vermutet!? Andrerseits welche ungeheure Wirkung hat eine solche Konditionierung, die über Generationen weitergegeben wurde, und weiter wirkt, auch wenn die Betroffenen gar nicht mehr zur Kirche gehören? Zumal da diese kirchliche Botschaft mit der „Lehre Jesu“ eine so innige Verbindung eingegangen ist, dass der Unterschied nicht mehr wahrgenommen werden konnte. Die Kirche hat Autonomie nicht nur diffamiert, sondern im Keime erstickt. Die Vorstellung einer Erbsünde hat den Menschen ihre angeborene „Erb-Würde“ genommen. Die Forderung nach Gehorsam als Tugend hat Menschen zu willenlosen Werkzeugen für die jeweiligen Machthaber gemacht. Hat diese kollektive Konditionierung über Zweitausend Jahre – ohne dass uns das bewusst ist - unsere Identität und unsere Wahrnehmung geprägt? Welche Rolle hat diese kollektive Konditionierung für den Autorittsgehorsam gespielt?
Da ich mich früher der Kirche sehr verbunden gefühlt hatte, war diese Frage doppelt erschreckend für mich. Einmal als ich das Ausmass und die Wirksamkeit dieser verwirrenden Botschaft erkannte, zum anderen, als mir bewusst wurde, dass ich selber – obwohl ich vor 30 Jahren aus der evangelischen Kirche ausgetreten bin - das bisher nicht in dieser Deutlichkeit erkannt hatte. So als gäbe es da ein Tabu, ein unbewusstes Wahrnehmungsverbot, das über Jahrtausende unsere Wahrnehmung verfälscht hat. Wir erleben und kritisieren mit Recht die zerstörerischen Exzesse eines fundamentalistischen islamischen Terrors. Aber sind wir nicht blind für die subtilere, aber daher viel wirkungsvollere Konditionierung durch autoritäre Selbst-Entfremdung nach dem Modell der Kreuzestheologie?
Meine These: Solange wir die Ursache des Autoritäts-Gehorsams nicht erkennen, das für die globale Zerstörung mit verantwortlich ist, solange können wir auch das immer noch wirksame Zerstörungsprogramm nicht stoppen. AUTORITÄTSGEHORSAM UND DIE DOPPELTE BOTSCHAFT DER KIRCHE?
Schauen wir uns die Zusammenhänge in Ruhe an, Schritt für Schritt. Als Therapeut möchte ich meine Leser nicht gefährden. Ich wiederhole meine Warnung zu Beginn: Wenn Sie gerade in einer Krise sind und ihren Halt in der kirchlichen Tradition finden, dann sollten Sie nicht weiter lesen. Ich werde die Zusammenhänge sehr drastisch schildern. Das wird für manche Leser schockierend sein, wird sich anfühlen wie Verrat oder Schuld. Selbst dann, wenn sie sich von der Kirche distanziert haben! Daran erkennen sie ihre Konditionierung. Wenn sie jetzt „die Brille“ der Familie und der Kirche ablegen, und durch die „Brille des gesunden Menschenverstandes“ die Zusammenhänge betrachten, könnte der Schock nachlassen. Das ist bereits ihre Chance für Dekonditionierung!
THESE 1 Die Botschaft des lebenden Jesus (Vor seiner Kreuzigung!) Jesus liebte die Menschen. Er ging bevorzugt zu den Armen, Unterdrückten und den für sündig erklärten, wie der Ehebrecherin und brachte ihnen seine Botschaft der Liebe: Ihr seid – wie ich - Gottes Kinder! Kann die Würde des Menschen überzeugender ausgedrückt werden? Diese „Erbwürde!“ beinhaltet: wir sind von Geburt an unschuldig und rein. Jesus lässt uns sozusagen unsere eigene „Christus-Natur“ entdecken – und die der anderen! Jesus stellte die Gesetze der Religion in Frage, vertrieb die Händler aus dem Tempel. Jesus war auf überraschende Weise autonom – deshalb wurde er von den römischen Machthabern verfolgt und wie ein Verbrecher lebend ans Kreuz genagelt. Wie konnte seine Botschaft durch die Kirche derart ins Gegenteil gekehrt werden?
THESE 2 Das Dilemma der Jünger Jesu Sie hatten Jesu Botschaft so verstanden, dass er „Gottes Reich“ auf Erden herstellen wollte. Statt dessen war er nun von der römischen Macht wie ein Verbrecher verurteilt worden. Sie gerieten in ein schreckliches Dilemma: Wie konnte er dann Gottes Sohn sein? Wie konnte Gott diesen schändlichen Tod seines Sohnes zulassen? Und auch sie selber als seine Anhänger gerieten in Verdacht, die römische Obrigkeit in Frage zu stellen und wurden verfolgt. Wie konnte dies doppelte Dilemma gelöst werden?
THESE 3 Die Kreuzestheologie – eine Überlebensstrategie? Es war vor allem Paulus, der durch die jüdische Theologie geschult, eine – geradezu geniale - Lösung fand. Er deutete den Verbrechertod Jesu um in ein Opfer: Gott habe seinen einzigen Sohn geopfert, um die Sünden der Menschen zu tilgen. Jesu Botschaft mit seiner Kritik an den Mächtigen und die dadurch ausgelöste Bestrafung durch die Staatsgewalt mit dem Foltertod am Kreuz – die typisch römische Todesstrafe – wurde ausgeblendet. Der Foltertod wurde umgedeutet zu einer Heilstat Gottes. Jesu Leiden und Tod nicht mehr Folge staatlicher Gewalt an einem Unschuldigen, sondern Quelle von Erlösung und Heil. Das beinhaltete notwendigerweise das Konstrukt einer angeborenen Sünde: Jeder Mensch sei, durch Adams Sündenfall verursacht, im Zustand der „Erbsünde“. Er sei von Grund auf verderbt und bedürfe der Erlösung. Dies könne nur durch den Opfertod des Gottessohnes geschehen. Die Folge dieser Umdeutung: Nicht die staatliche römische Macht war für die Marter des Gottessohnes verantwortlich – sondern Gott selber! Und er tat das nur, um die Sünden der Menschen zu sühnen – als ob alle Menschen - seine Geschöpfe! - sündig wären und als ob er keine andere Möglichkeit zur Lösung hätte. Hier wird die alttestamentliche Aufforderung Gottes an Abraham, seinen Sohn Isaak für Gott zu opfern, noch übertroffen durch die Variante, dass Gott seinen eigenen Sohn opfert, für die Menschen. Was für ein makabres Bild Gottes – aber auch des Menschen! Ist das nicht Gotteslästerung? Und „Menschenlästerung“? Jahrhunderte blutiger Christenverfolgungen trugen dazu bei, dass die Kreuzestheologie des Paulus immer mehr Gewicht erhielt. Gleichzeitig wurde in den Evangelien1 - wahrscheinlich das Ergebnis späterer „Korrekturen“- die Verantwortung für den Tod Jesu den Römern abgenommen – Pilatus: „Ich wasche meine Hände in Unschuld!“ - und den jüdischen Priestern zugeschoben: „Sein Blut komme über uns und unsere Nachkommen!“ (Kreuzigung war die römische Form der Todesstrafe, die jüdische Form der Todesstrafe war die Steinigung)
Durch diese kühne Umdeutung und die Entlastung des Pontius Pilatus wurden beide Aspekte des Dilemmas beseitigt. Der revolutionäre Aspekt von Jesu Lehre, die dem Einzelnen einen eigenen Wert zuspricht gegenüber der Macht (Autonomie!), wurde ausgeklammert, die Verantwortung für seinen Tod den jüdischen Priestern zugeschoben. Dadurch wurde die Christengemeinde „kompatibel“ mit der römischen Staatsmacht, die Verfolgungen liessen nach. Die „Überlebensstrategie“ des Paulus und anderer bei der Korrektur der Schriften zeigte Wirkung! Die christlichen Gemeinden wurden nicht mehr verfolgt. Im Gegenteil, sie wurden als römisch-katholische Kirche zur Staatskirche des gesamten römischen Reichs. Die Verbindung von Kirche und Staat erwies sich als sehr machtvoll: die Kirche übernahm Organisation, Selbstverständnis und Insignien der staatlichen Macht, der Staat erhielt durch diese Verbindung sozusagen „göttliche Anerkennung“. Diese Verbindung bestimmte das ganze Mittelalter bis in die Neuzeit. Der Therapeut erkennt in diesem Vorgang der „Identifikation des Opfers mit dem Aggressor“ die bekannte Überlebensstrategie eines Gewaltopfers. Diese Überanpassung an einen mächtigen Täter geht einher mit einer Abspaltung eigener Selbstanteile. Das ist der Preis für das Überleben.
THESE 4 Konditionierung zur Selbst-Entfremdung und MACHT Diese Dynamik war – buchstäblich - erschreckend erfolgreich: Die Instrumentalisierung des Menschen - und der Natur - hat zu einer bisher ungeahnten Konzentration von Macht geführt, hat eine bis dahin unbekannte Entwicklung von Kunst, Wissenschaft und Technik ermöglicht. Aber Kunst, Architektur, Musik wurden zur Verherrlichung, zur Selbstdarstellung kirchlicher und weltlicher Macht missbraucht. Zwei Beispiele: Der Petersdom in Rom wurde durch den Ablasspfennig finanziert („sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Fegfeuer springt“). Tausende von Jungen wurden im 16. und 17. Jahrhundert kastriert, damit einige wenige als Kastraten in der Kirche die hohen Stimmen singen konnten. Denn den Frauen war durch den Satz des Paulus – „die Frau soll in der Kirche schweigen“ – verboten, in der Kirche ihre Stimme zu erheben. So kam es zu einer bis dahin unerhörten Konzentration von Macht. Das hat einerseits die Entwickung von Kultur und Wissenschaft ermöglicht. Andrerseits entwickelten sich auch Techniken, um dieses Wissen praktisch anzuwenden: Die Erfindung immer wirksamerer Werkzeuge, Maschinen und Waffen und von Techniken einer kollektiven Erziehung zum Gehorsam. Das schuf eine Machtüberlegenheit gegenüber anderen Kulturen, die mehr oder weniger im Einklang mit sich und ihrer Umgebung lebten. Um die eigene Macht zu vergrössern ihre Würde und Unschuld abgesprochen, sie unterdrückt, ausgenutzt. Unter dem Vorwand, sie aus ihrer Rückständigkeit zu befreien und ihnen die wahre Religion zu bringen, wurden ganze Kontinente missioniert und kolonialisiert. Dadurch wurden diese Kulturen – erst die europäischen, dann die aussereuropäischen - geschwächt, den eigenen Traditionen entfremdet, ausgeplündert und versklavt – und dem abendländischen Machtbereich einverleibt.
THESE 5 Hypno-systemische Wirkung der Kreuzestheologie Therapeuten wissen, wie Bilder, Rituale, „Glaubenssätze“ und „Narrative“ (symbolträchtige Geschichten) die Wahrnehmung, das Selbst-Bild, die Orientierung und damit das Verhalten eines Menschen beeinflussen können. Besonders wenn sie in der Prägephase der Jugend, wenn sie kollektiv und wenn sie gezielt und systematisch eingesetzt werden, können sie den einzelnen prägen. Über Generationen weitergegeben, bewirken sie eine kollektive Konditionierung. Die Umdeutung der Kreuzesfolter Jesu durch die Römer, zu einer Erlösungstat Gottes, und die Aufforderung an die Gläubigen, diesem gekreuzigten, gefolterten Jesus gleich zu werden, machte aus der Schar der verfolgten Christengemeinde eine Staatskirche. Aber welche Auswirkungen hatte dies für das Überleben offensichtlich so erfolgreiche „Narrativ“ auf die Gläubigen? Wie wirken sich folgende Themen hypnosystemisch aus? ein „allmächtiger“ Gott, der seinen einzigen Sohn opfert, um die Sünden der Menschen zu sühnen, Die Umdeutung einer schandvollen Todesstrafe zu einem heilbringenden Opfertod,
ein „allmächtiger“ Gott, der seinen einzigen Sohn opfert, Was ist das für ein Gottesbild? Ist das der liebevolle Vater, den Jesus predigte, der die Menschen als seine Kinder ansah – oder ist das nicht ein Zerrbild Gottes, das Spiegelbild eines Diktators mit unbegrenzte Macht und Willkür? Das Menschen-Opfer ist ein archaisches Ritual, um unberechenbare und zerstörerische Gottheiten zu besänftigen. Im alten Testament gibt Gott Abraham den Auftrag, seinen erstgeborenen Sohn Isaak zu opfern – und nimmt dann rechtzeitig diesen Auftrag zurück. Hier ist es ein Gott, ein allmächtiger Gott, der seinen einzigen Sohn opfert – wozu? - um die Sünden der Menschen zu sühnen! Und das wird als Zeichen seiner Liebe für die Menschen gedeutet und als „Frohe Botschaft“ verbreitet. Diese Vorstellung ist unerträglich, sie ist gotteslästerlich und eine Beleidigung für den Verstand. Wenn die Kirche so etwas als Wahrheit verbreitet, mit dem Gewicht ihrer Macht und mit zusätzlichen Androhungen von Folterqualen in der Hölle – dann zwingt sie ihre Mitglieder dazu, auf einen eigenen kritischen Verstand zu verzichten, der eigenständig zwischen Wahr und Unwahr, zwischen Gut und Böse unterscheiden kann. Dazu passt dass im Mittelalter das Lesen der Bibel für die Laien verboten war! Die Bibel stand auf dem Index!
.. um die Sünden der Menschen zu sühnen, Jesu Leid am Kreuz wird nun eine heilende, eine befreiende Wirkung zugesprochen. Besonders spanische Maler haben die Kreuzesqualen mit einem erschreckenden Realismus dargestellt. Die geradezu inbrünstige meditative Versenkung über dieses heilbringende „süsse“ Leiden bewirkt eine tiefe Verwirrung von Gefühl und (erneut!) von Verstand. Die klare Wahrnehmung für Recht und Unrecht wird getrübt. Die gesunde Kraft, sich gegen - eigene und fremde! - Unterdrückung, Unrecht und Leid erfolgreich zu wehren wird dadurch geschwächt, ja für Sünde erklärt.
Die „Erbsünde“ wird mit dem „Sündenfall“ in Verbindung gebracht, einer Episode der Schöpfungsgeschichte. Eva ass – gegen göttliches Verbot - eine Frucht vom Baum der „Erkenntnis des Guten und Bösen“. Als Folge wurde das erste Menschenpaar aus dem Paradies vertrieben. Die hypnosystemische Botschaft dieses Narrativs: Dieser allmächtige Gott verbietet den Menschen, die eigene Erkenntnis des Unterschieds von Gut und Böse, als würde ihm das etwas von seiner Allmacht nehmen? Durch die Annahme einer „Erbsünde“ wird das „Selbst“, werden die menschlichen Bedürfnisse nach Selbstbestimmung, wird der Körper mit seinen Bedürfnissen (Sexualität) als „verderbt“ diffamiert. Abgrenzung, ein „Nein“ zu sagen wird als Ungehorsam, als Sünde bezeichnet. Höchste Tugend ist nun: Gehorsam wie ein „corpo muerto“ (Ignatius von Loyola, Gründer des Jesuitenordens), um Instrument sein zu können für den göttlichen Willen. Das nimmt dem Menschen seine eigene Würde, macht ihn gefügig, wehrlos, abhängig. Das macht ihn ohnmächtig. So wird es dem (All-)Mächtigen möglich, den Ohn-mächtigen zu „verzwecken“, für fremde Interessen zu instrumentalisieren. Umso mehr, als er sogar seinen eigenen Sohn „für einen guten Zweck“ geopfert hat! Eine Konsequenz dieser Verwirrung ist die Maxime: der Zweck heiligt die Mittel. Das „Selbst“ wird abgewertet, verteufelt. So wird die Quelle der eigenen Würde und Kraft vergiftet. So werden die beiden Voraussetzung für Autonomie: „Selbst“-Wert und Fähigkeit zur Abgrenzung, im Keime erstickt. Menschen werden zu willenlosen Werkzeugen für etwas „Höheres“, angeblich für Christus, für die Kirche, aber dadurch auch für eine andere Macht.
Die Umdeutung einer schandvollen Todesstrafe zu einem heilbringenden Opfertod, Diese Botschaft führte dazu, dass die „Christus-Natur“ in uns – die Jesus durch seine Predigt in uns wecken und befreien wollte – erneut gekreuzigt wird, und diesmal durch die (römische) Kirche selber, die sich mit dem Täter identifiziert hat. So kreuzigt die Kirche jeden einzelnen ihrer Gläubigen erneut, damit er dem von der Macht gefolterten Jesus gleich wird. Hypnosystemische Wirkung der Sakramente Eucharistie als Aufforderung, dem geopferten Jesus gleich zu werden Und um diese Identifizierung mit dem geopferten Jesus auf die Spitze zu treiben, wird der Christ zu einem makabren Ritual verpflichtet, er muss jeden Sonntag symbolisch das Fleisch und das Blut des von den Römern gefolterten Jesus essen. Er verleibt sich den Gefolterten in einem kannibalischen Ritual ein - um ihm ähnlich zu werden. Hier der Text nach dem Lukasevangelium: denn ich sage euch: Ich werde nicht trinken von dem Gewächs des Weinstocks, bis das Reich Gottes komme. Und er nahm das Brot, dankte und brach's und gab's ihnen und sprach: Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird; das tut zu meinem Gedächtnis. Desgleichen auch den Kelch, nach dem Abendmahl, und sprach: Das ist der Kelch, das neue Testament in meinem Blut, das für euch vergossen wird.…
ZUSAMMENFASSUNG Die „frohe Botschaft“ und die kollektive Konditionierung zur Selbst-Entfremdung Erbsünde Beichtpflicht Fegefeuer und Hölle Kreuzestheologie Diese Verklärung von Unterwerfung und Folter hat - hypnosystemisch gesehen – 2000 Jahre lang eine Konditionierung zur Selbst-Entfremdung bewirkt. Das Gefühl und die Wahrnehmung für das Unrecht staatlicher Gewalt wurde dadurch verwirrt. Das Bedürfnis nach Autonomie und die Kraft, sich erfolgreich gegen – eigene, aber auch fremde - Unterdrückung und Folter zu wehren, wurde als Ungehorsam und Sünde diffamiert. Durch diese Selbst-Entfremdung werden freie Menschen zu "schweigenden Lämmern" gemacht, die sich willenlos und widerstandslos unterdrücken, ausnützen und ausbeuten lassen. So wird Selbst-Folter und Selbst-Unterwerfung verklärt zu einem „Gottesdienst“. Die Stilisierung diese Rituals zu einem „heiligen Sakrament“ bewirkt, dass jeder kritische Gedanke bereits im Keim erstickt wird. Von meinen Klienten erfahre ich immer wieder, wie verwirrend für Geist und Gemüt eines heranwachsenden Kindes diese abstrusen Vorstellungen waren. Manche erinnern, sich davor geekelt zu haben, den „Leib Christi“ essen zu müssen. Eine katholisch erzogene Klientin erinnert, dass sie froh war, nicht wie die Protestanten auch das „Blut Christi“ trinken zu müssen. Und wenn ein Kind vor einem Kruzifix fragte, was ist das, dann erhielt es die Antwort: das ist der Gottessohn der auch für deine Sünden sein Leben geopfert hat. Wie kann ein Kind Vertrauen zu seinem eigenen Verstand, zu seiner eigenen Gefühlswahrnehmung bekommen, wenn ihm derartige Abstrusitäten als „Dogma“, als unverrückbare „göttliche Wahrheiten“ in Herz und Hirn gepflanzt werden? Eine Klientin erinnert, dass sie zu Mutter Maria gebetet habe, dass sie ihr später all das Unbegreifliche einmal erklären würde. Wenn ich nüchtern bedenke, dass über 2000 Jahre erwachsene, kluge Menschen diese Vorstellungen für wahr gehalten und ihren Kindern als Wahrheit weitergegeben habe – dann ist das eigentlich unvorstellbar! Und wenn die gesunde Autonomie erst einmal gebrochen ist, dann werden die Betroffenen auch zum gefügigen Werkzeug für andere Mächte.
Exkurs: KRITIK INNERHALB DER KIRCHE Diese Verfälschung der Botschaft Jesu durch die Kirche, die offensichtliche Diskrepanz zu der Lehre des „lebendigen Jesus“ führte immer wieder zu Konflikten, zur Entstehung von neuen Gruppen, die sich an der ursprünglichen Lehre Jesu orientierten. Diese Gruppen wurden z.T. als „Häretiker“ von der Kirche brutal unterdrückt und ausgemerzt, auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Manche Gruppierungen konnten überleben, z.T sogar innerhalb der Kirche – Franziskus und sein Orden, Mystiker, Befreiungstheologie – oder sie spalteten sich ab: die reformierten Kirchen von Luther, Zwingli und Calvin. Aber auch diese Reformierten haben die selbst-entfremdende Wirkung der Kreuzestheologie nicht erkannt und daher nicht in Frage gestellt. Veröffentlichte Kritik an der Kreuzestheologie innerhalb der Kirche ist sehr selten. Zu diesem Thema findet man nur wenig: einen deutschen Theologen Klaus-Peter Jörns: „Notwendige Abschiede. Auf dem Weg zu einem glaubwürdigen Christentum“ (Gütersloh, 5. Aufl. 2010). Den schweizer Theologen Ulrich Hedinger („Kritik an der Kreuzestheologie“, Tübingen) eine schweizer Theologin – Vertreterin einer „feministischen Theologie“: Doris Strahm. Die beiden letzteren stellen auch einen Zusammenhang her zwischen einer „Vergötzung des Leidens“ und dem heute verbreiteten Machtmissbrauch kirchlicher, aber auch weltlicher Machtstrukturen wie Wirtschaftskonzernen und Finanzwirtschaft. Doris Strahm wurde – als sie sich weigerte, ihre Kritik zurück zu nehmen – nicht mehr zu kirchlichen Ämtern zugelassen.
EXKURS: KRITIK VON AUSSEN Kant und Dostojewski Es gab bekannte Kritiker der kirchlichen Unterdrückung: zum Beispiel Emmanuael Kant und die von Ihm angestossene Aufklärung. Das von ihm beschriebene Phänomen der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ konnte durch eine verbale Aufklärung alleine nicht gelöst werden. Wie wir heute sehen, ist dieser Autoritätsgehorsam durch Konditionierung entstanden. Um ihn zu lösen, bedarf es anderer Methoden. Auch Dostojewski hat in seiner bekannten Parabel vom Großinquisitor das Dilemma der doppelten Botschaft eindrücklich geschildert: Jesus ist wieder auf die Welt gekommen, ins Sevilla der Ketzerverbrennungen. Die Menschen erkennen ihn und er heilt Kranke. Der Grossinquisitor sieht das und lässt ihn gefangen nehmen und ins Gefängnis bringen, um zusammen mit anderen Ketzern verbrannt zu werden. Der greise Inquisitor besucht ihn im Gefängnis: warum bist du wieder gekommen? Wir haben dich und deine Lehre geliebt – aber wir mussten sehen, dass die Menschen sie nicht verstehen. Sie wollen gehorchen. Der Grossinquisitor öffnet Jesus die Gefängnistüre:“aber komme nie mehr wieder!“ Jesus küsst den greisen Großinqusitor zum Abschied. Die Ostkirche so scheint mir hat diese Kreuzestheologie nicht in dieser Ausprägung übernommen. Für sie stand nicht der gekreuzigte, sondern der auferstandene Christus im Zentrum der Verkündigung.
KRITIK DURCH PSYCHOTHERAPIE Deutliche Kritik gab es von Seiten der Psychotherapie, die ja in der Regel den Klienten dabei unterstützt, zu mehr Autonomie und Selbstverantwortung zu finden. Bereits Freud hat sich kritisch zur Rolle der Religion geäussert. In der Gegenwart ist unter anderen Tilmann Moser mit seinen Büchern „Gottesvergiftung“ (1976) und „Von der Gottesvergiftung zu einem erträglichen Gott“ (2003) zu nennen.
THESE 6 Kollektive Selbst-Entfremdung - Das globale Zerstörungsprogramm Die Kirche hat – nicht als einzige und nicht zum ersten Mal in der Geschichte – ein Prinzip der Macht-Akkumulation verwendet, das sehr effektiv war: sie schaffte zunächst die Bedürfnisse (Bewusstsein der eigenen Sündigkeit), für deren Befriedigung (Erlösung) sie selber ein Monopol beansprucht. Gleichzeitig werden die eigenen Macht-Interessen verschleiert durch Vortäuschen „Ich will ja nur dein Bestes“. Genau dieses Prinzip wurde zum Modell für die heutigen Formen des Kapitalismus. Ein Beispiel: Der Nahrungsmittelkonzern Monsanto verspricht, den Hunger der Welt zu mindern und macht in Wirklichkeit durch seine Produkte Millionen abhängig, treiben sie in Verarmung, Hunger, Verelendung und Tod. Das ungebremste Wachstum eines Macht-Kartells aus Finanzen, Wirtschaft und Militär hat es verstanden, jede demokratische Kontrolle auszuhebeln. Die Politiker scheinen ratlos. Sie vertreten immer seltener die Interessen ihrer Wähler, sondern lassen sich von Lobbyisten beraten. das hat die Dynamik eines Krebsgeschwulstes und droht die ganze Menschheit zu zerstören. Der auf diese Weise erzeugte Hass der Unterdrückten und Missbrauchten schlägt jetzt zurück: Terror, Flüchtlingsströme der verarmten und verelendeten Völker. Das Ausmass der globalen Zerstörung wird immer bedrückender. Die Menschen – durch 2000 Jahre sich selbst entfremdet und in der Tiefe verwirrt – fühlen sich ratlos, hilflos. Sie sehen, wie die demokratisch gewählten Vertreter nicht ihre Interessen vertreten – sondern die der Machtkartelle. Sie spüren am eigenen Leib die zunehmende Verarmung und Verelendung. Die eigentliche Ursache: die verbrecherische Selbstbereicherung der Macht-Kartelle wird verschleiert. Und wir Betroffenen sind verwirrt. Alles scheint so kompliziert – weil eigenständige Wahnehmung und Entscheidung durch 2000 Jahre Konditionierung „verboten“ sind. Wir können uns gegen Gewalt und Indoktrinierung von heute nicht wehren. Die Lämmer schweigen.