Viele KlientInnen klagen über ein fehlendes Selbstwertgefühl, über ein Gefühl, perfekt sein zu müssen und nicht gut genug zu sein. Die Systemische Selbst-Integration kennt bereits das Format des „Blockierenden Elementes“, mit dessen Hilfe dieser „Glaubenssatz“ aus dem eigenen Raum entfernt werden kann. Weiter ist es möglich, als Ursache eines solchen „Glaubenssatzes“ ein traumatischen Ereignis - aus der eigenen Biografie oder aus den Familiensystemen von Mutter und Vater – zu entdecken. Wenn sich dies eigene oder übernommene Trauma noch im eigenen Raum als Introjekt befindet, dann kann es ebenfalls entfernt und abgegrenzt werden.
Hier soll ein neues Format zur Lösung dieses Problems vorgestellt werden, ausgehend von den Beobachtungen zu einer „Höheren Ebene“.
Auf einer höheren Ebene Vor kurzem habe ich gezeigt, dass sehr unterschiedliche Dynamiken – grandiose Selbstüberschätzung, missverstandene Spiritualität aber auch Dissoziation als Folge einer frühen Traumatisierung – dazu führen können, dass die KlientIn nicht „ganz auf dem Boden ist“, und deshalb nicht mit ihrem Selbst, mit ihrem Körper, mit ihren Gefühlen verbunden sein kann.
Dies Phänomen kann der KlientIn mit Hilfe des „Schemeltestes“ bewusst gemacht werden, indem sie sich auf einen – ca. 20 cm hohen – Schemel stellt, und spürt, ob sie dies Gefühl kennt. Meist lächelt sie verräterisch. In dieser abgehobenen Position lässt sie die unangenehmen Gefühle nicht so sehr an sich herankommen. Sie hat die Illusion, über den Dingen zu stehen. Ihr wird die „Drogenwirkung“ dieses Gefühls von Überlegenheit bewusst. Diese Reaktion kann als Überlebensstrategie verstanden werden. Wenn ein destruktives Introjekt irrtümlich als etwas Eigenes im eigenen Raum festgehalten wird dann ist dadurch die Selbstverbindung verhindert. Wenn eine Befreiung durch Entfernen des Introjektes nicht möglich ist, dann bleibt nur die illusionäre Lösung, sich selber aus dem „fremdbesetzten Raum“ zu entfernen, und zwar „nach oben“, auf eine andere Ebene. Dies Phänomen nennt man Dissoziation. Wenn die KlientIin diese Zusammenhänge erkennt, dann wird ihr jetzt auch der Preis für diese Überlebensstrategie deutlich: sie ist nicht auf dem Boden, sie ist nicht im Kontakt mit ihrem Selbst und auch der Kontakt zu anderen ist dadurch gestört, dass ein Gefühl der Überlegenheit eine Begegnung auf Augenhöhe verhindert. Durch die Einsicht in diese Zusammenhänge ist sie bereit zu einer Lösung, indem sie von dem Schemel herabsteigt. Nun spürt sie wieder die Schmerzen, die sie durch die Dissozation vermeiden konnte. Sie erkennt das Introjekt als ich-fremd und ist bereit, es aus ihrem Raum zu entfernen. So kann sie wieder Kontakt bekommen, zu ihren Selbstanteilen und zu anderen Personen.
Selbstwertproblem und Selbst-Überforderung KlientInnen, die in ihrer Kindheit durch leistungsorientierte Eltern überfordert oder abgewertet wurden, oder angesichts einer destruktiven Familiensituation das Gefühl hatten, sie müssten die Familie retten, oder sie seien sogar für das Chaos verantwortlich, entwickeln unbewusst einen so hohen Anspruch an sich, dass sie damit nur scheitern können. Dieser Anspruch geht einher mit der Illusion von Überlegenheit. Die damit verbundenen Größenfantasien wirken wie eine „Droge“, auf die die KlientIn meist nicht verzichten möchte, obwohl die unvermeidbaren Erfahrungen von Scheitern und Versagen das Selbstwertgefühl massiv beeinträchtigen. Diese Größenfantasien führen nicht nur - über die wiederholten Erfahrungen des Scheiterns - zu einer Selbstabwertung. Das Gefühl der Überlegenheit führt auch zu einer Abwertung der anderen, die sich daraufhin aus dem Kontakt zurückziehen. Das macht die Betroffenen einsam. Oft kämpfen die Betroffenen schon seit Jahren gegen dies Leid, ohne eine Lösung zu finden.
Ein überhöhtes Selbstbild Die beschriebene Dynamik entspricht einem überhöhtem Selbstbild („falsches Selbst“). Es ist paradox, dass sich hinter einem Selbstwertproblem ein überhöhtes Selbstbild verbirgt! Möglicherweise zeigt sich das auch im Autonomie-Diagramm als (unzutreffend) hoher Wert für B „Selbstverbindung“, bei gleichzeitig hohem Wert für E „Dominanz und Übergriffigkeit“. Dies überhöhte Selbstbild führt zwangsläufig zu einer Geringschätzung des „wahren“ Selbst, das diese überzogenen Ansprüche nicht erfüllen konnte oder wollte. In der Aufstellung zeigt sich das am Verhalten der Repräsentanten der Selbst-Anteile: sie spüren die Geringschätzung der KlientIn und ziehen sich von ihr zurück.
Der Schemeltest Hier ermöglicht der Schemeltest eine Lösung. Wenn die KlientIn sich auf den Schemel stellt, erlebt sie wieder das Gefühl einer Überlegenheit gegenüber den anderen (die „Droge“). Und sie erkennt, wie sie aus dieser Position der Überhöhung ihr Erwachsenes Selbst als klein und unattraktiv erlebt. Das hindert sie an der Verbindung mit ihrem Selbst. Diese Einsicht hilft ihr, auf die „Droge“ zu verzichten und vom Schemel herunter auf den Boden zu kommen. Wenn die KlientIn „auf Augenhöhe“ zu ihren Selbstanteilen kommt, wenn sie das Leid des kindlichen Selbst sehen und als ihr Leid von damals annehmen kann, dann spüren auch die Selbstanteile mehr Verbindung zur KlientIn und sind bereit auf sie zuzukommen, allerdings noch zögernd.
Fehlende Selbst-Achtung Die Klientin missversteht die Distanz zu ihren Selbstanteilen oft so, als seien diese von ihr enttäuscht, und „traut“ sich deshalb nicht, auf ihre Selbstanteile zuzugehen. Wie lässt sich dies Hindernis auflösen? In einer derartigen Aufstellung tauchte die Hypothese auf, dass die KlientIn ihre Selbstanteile nicht geachtet hatte, sich dafür schuldig fühlte, und dass sie dann diese Schuldgefühle auf die Selbstanteile projizierte, so als hätten diese ihr gegenüber Vorbehalte. Diese Hypothese ließ sich sofort durch folgende Interventionen überprüfen. Ich schlug der KlientIn vor, zu ihrem (erwachsenen, wahren) Selbst – „das seinen Wert in sich hat, unabhängig von Leistung“ - die folgenden Sätze zu sagen und zu spüren, ob sie stimmig sind: „Ich hab dich anscheinend bisher nicht geachtet. Das hat nichts mit dir zu tun. Und das hast du auch nicht verdient. Vielleicht weiß ich gar nicht, wie sehr ich dich brauche!“ Wenn diese Sätze für die Klientin stimmig waren, dann fühlte auch ihr Selbst sich von ihr geachtet. Und erstaunlicherweise war es nicht „nachtragend“. Dann konnte es sagen: „ich bin dir dafür überhaupt nicht böse! Ich wünsche mir nur, mit dir verbunden zu sein!“ Danach war der Weg frei zu einer befreienden tiefen Verbindung mit dem erwachsenen Selbst. Die Regelmäßigkeit dieser Reaktion der Stellvertreter des Selbst ist sehr berührend. Anscheinend spürt das Selbst – nach C.G.Jung der „göttliche Funke in uns“ - eine „bedingungslose Liebe“ zur KlientIn. Bisweilen jedoch ist dieser Satz für die KlientIn nicht stimmig, sie verharrt in einer Haltung der Geringschätzung für ihr Selbst. Wenn sie sich nun - drei Atemzüge - lang tief vor ihrem eigenen Selbst verneigt, um ihm ihre Achtung auszudrücken, dann kann das etwas bewegen. Wenn nicht, dann gibt es vielleicht ein anderes Introjekt – ein Trauma, ein verlorenes Geschwister – was sie daran hindert, ihr eigenes Selbst wertzuschätzen. Dies neue Format könnte Menschen mit Selbstwert-Problemen helfen, besonders wenn es mit dem Format des „Blockierenden Elementes“ verbunden wird, sodass zusätzlich ein eigenes oder ein übernommenes Trauma-Introjekt gefunden und entfernt werden kann.
RITUAL DER ACHTUNG Um eine ganze Gruppe auf die Arbeit der Selbst-Integration vorzubereiten, hat sich ein gemeinsames Ritual bewährt. „Vielleicht glaubt ihr, euer Selbst noch nicht zu kennen. Euer Selbst ist euer „Wesen“, das was ihr eigentlich seit. Erinnert euch an eine Erfahrung in der Natur, die euch tief berührt hat: ein früher Morgen im Wald, eine Nacht am Meer. Der Teil in euch, der da berührt wurde, ist euer Selbst. Und dass ihr die Berührung gespürt habt, zeigt euch, dass ihr ein Teil seit diese Größeren Ganzen.“
„Um euer SELBST zu spüren schlage ich euch ein dreifaches Ritual der Achtung vor. Erinnert euch an eure Naturerfahrung und verneigt euch – einzeln oder als Gruppe - drei Atemzüge lang tief vor dem Größeren, von dem unser Selbst ein Teil ist: das Transzendente, der Kosmos, oder die Natur oder „Mutter Erde“, oder dem TAO. Danach verneigt sich jeder vor dem Selbst des Gegenübers. Und schließlich verneigen wir uns vor dem Selbst in uns. Auch wenn wir mit ihm noch nicht verbunden sind. Dadurch kann die Achtung wachsen, für uns – und für den anderen. So spüren wir unser SELBST, diese innere Instanz, die sich verbunden fühlt mit dem größeren Ganzen, und daher ihre Verantwortung kennt für das größere Ganze, das uns hervorgebracht hat, das uns trägt und nährt. Dieser innere Kern unseres Selbst ist unzerstörbar und er kann nicht verloren gehen. Das gibt uns unseren Wert und unsere Würde – unabhängig von Leistung oder dem Gefühl, gebraucht zu werden. Je besser wir mit ihm verbunden sind, umso besser können wir selbstbestimmt und zugleich mit Verantwortung für unsere Erde leben.