Wir können in der SSI immer wieder beobachten, dass die kindlichen Anteile der KlientInnen noch immer unter dem Eindruck von Spannungsfeldern stehen, die sie als Kind einmal aushalten mussten. Ganz so als wäre dieser kindliche Anteil noch immer in dieser Situation aus der Vergangenheit eingefroren und in dieser Gefangen. Die geläufigste Variante dieses Musters ist ein Kind, dass im Spannungsfeld von zwei belasteten Elternteilen aufgerieben wird.
Im Idealfall durchläuft eine gesunde Beziehung Phasen der Nähe und Distanz, die sich wie Ebbe und Flut abwechseln und eine Beziehung zu einem Tanz machen. Das schafft Freiraum und Verbundenheit und gibt eine Beziehung etwas Lebendiges, Organisches und Wachstumsfähiges.
Doch oft sind Beziehungen eher durch Belastungen auf einer oder beiden Seiten geprägt. Dabei gehen die natürlichen Rhythmen verloren. Übermäßige Nähe - Symbiose - und drastische Momente der Trennung - Überabgrenzung - wechseln sich in einem unvorhersehbaren und erratischen Wechsel ab. Die Beziehung wird als gespannt und mit Stress aufgeladen erlebt. Leider nicht nur von denen, die direkt an der Beziehung beteiligt sind.
Ist die Beziehung der Eltern über lange Zeit durch diese Stresspannungen geprägt, dann stellt diese Situation für ein Kind - das eigentlich zur eigenen Orientierung auf denn Kontakt von Selbst zu Selbst angewiesen ist - eine extreme Herausforderung und Belastung dar. Das Kind rutscht zwischen die Eltern - wie ein Blitzableiter. Die Reaktionen sind dann oft Verwirrung, Überforderungen und unterdrückte Wut gepaart mit dem verzweifelten Versuch - und dem illusionären Anspruch - die Beziehungsspannung zwischen den Eltern managen, moderieren oder kontrollieren zu müssen oder zu können. Murray Bowen - einer der Väter der modernen Familientherapie - hatte das als den „Projektionsprozess innerhalb der Familie“ bezeichnet.
In den letzten Monaten hat sich gezeigt, dass dieser verzweifelte Versuch eines Kindes, die Spannungen im Aussen kontrollieren und regulieren zu müssen, nicht auf den Umgang mit zwei oder mehreren Personen beschränkt sein muss. In manchen Situationen genügt es, wenn eine enge Bezugsperson starke Formen der inneren Dysregulation aufweist. Ein solches Elternteil befindet sich gewissermaßen in einem ständigen Kampf mit sich selber. Es steht innerliche unter Spannung. Einer Spannung die so stark ist, dass sie für das Kind als bedrohlich erlebt wird und dann den verzweifelten Versuch auslöst, diese Dysregulation unter Kontrolle zu bringen.
Bernd kommt in die Aufstellung, weil ihn eine Situation im Alltag aus der Bahn geworfen hat. (Das Beispiel behandelt eine fiktive Person und ist aus mehreren ähnlichen Situation zusammengestellt.) Beim Einkaufen war er Zeuge eines Vorfalls im Supermarkt geworden. Eine Kundin hatte aus dem Nichts einen Streit mit einer Kassiererin angefangen. Die Marktleitung war dazu gekommen und hatte die Frau gebeten den Laden zu verlassen. Doch diese ließ sich nicht beruhigen. Stattdessen eskalierte der Streit, die Frau nahm eine Flasche aus dem Regel und feuerte sie in eine anderes Regal. Die Polizei musste gerufen werden um die Situation in den Griff zu bekommen. Bernd hatte die Situation aus sicherer Entfernung miterlebt, doch er fühlt sich seitdem wie aus der Bahn geworfen. „Irgendwas in mir fühlt sich seitdem ungeschützt und überfordert.“
In der Aufstellung verwenden wir ein „blockierendes Element“ - ein zunächst noch unbekanntes Thema um zu erforschen, was ihn an der Situation so berühren konnte. Bei Einspüren in das „blockierende Element“ kommen ihm Bilder von seinem Mutter. Die hatte als Kind im Nachkriegsdeutschland in der Familie viel Gewalt erlebt was sie ihr Leben lang gezeichnet hat. Kleinste Abweichung in der gewohnten Umgebung oder unvorhergesehene Ereignisse konnten sie bereits aus der Bahn werfen und lösten bei ihr einen „Nervenzusammenbruch“ aus. Deshalb hatte sie sich eine extrem kontrollierte Persönlichkeit zugelegt und war nur in einem sehr beschränkten Rahmen unbeschwert Lebensfähig. Das führte aber Wiederrum dazu, dass sie sich selber und der eigenen Lebendigkeit gegenüber eine stark abneigende Haltung entwickelte. Eine Haltung die sie auch gerne auf andere Projizierte, wenn diese in ihren Augen „zu unbeschwert und lebendig“ waren.
Bernd zeichnet das Bild einer Frau, deren Leben durch eine starke „Innere Zerrissenheit“ geprägt ist. Die eigene Lebendigkeit und Körperlichkeit musste ständig kontrolliert und gemaßregelt werden um nicht in eine Dysregulation zu geraten. Der kognitive Teil der Persönlichkeit und der somatische Teil der Persönlichkeit sind in einem ständigen Spannungsverhältnis.
In der Aufstellung symbolisieren wir das dadurch, dass wir neben der Mutter und ihrem Selbst auch eine „Kindlich, vitales Selbst“ für die Mutter aufstellen - denn schließlich ist auch die Mutter mal ein Kind gewesen und . Als die Figur von Bernds kindlichen Selbst zwischen der Mutter und ihrem Körperselbst steht, kommt das Bernd extrem bekannt vor. Er spürt eine starke Spannung und Überforderung, die auch zu der Begegnung mit der Frau im Supermarkt passt. Gleichzeitig fühlt sich die Situation „heimisch“ und vertraut an. Bernd spürt eine Verbindung zu seiner Mutter, als wäre er ihr ganz Nahe. Und er spürt eine gewisse Überlegenheit, so als wäre seine bloße Anwesenheit ein stabilisierender Faktor, weil er ja - vermeintlich - regulieren kann, was der Mutter nicht gelingt.
Gleichzeitig wird ihm nun deutlich, wie sehr seine eigene Selbstregualtion dadurch beschnitten ist, dass seine Kraft ständig im Versuch gebunden ist, die innere Zerissenheit der Mutter zu kitten. Und aus der Perspektive als erwachsener, fünfzigjähriger Mann, wird ihm deutlich, wie illusionär und aussichtslos diese kindlichen Bemühungen waren. „Ich kämpf da nicht nur gegen Windmühlen ich kämpfe auch noch gegen Windmühlen, die mit mir nichts zu tun haben.“
Nachdem er seine vitales, kindliches Selbst aus der Spannungslinie zwischen den Mutter und ihrem Körper befreit hat und ihm in seinen eigenen Raum eine sichere Heimat gegeben hat, fühlt er mit einem Mal eine große Entlastung. Er kann seinem kindlichen Selbst mit voller Überzeugung und Tränen der Rührung sagen: „Das Schreckliche von Damals ist sehr lange vorbei. Wir haben es überlebt. Es kann uns hier uns heute nicht länger gefährlich werden. Und was da bei der Mutter ist oder war, das bist die vollkommen Unschuldig. Du musst es nicht verändern. Du musst es nicht kontrollieren. Du muss es nicht regulieren. Du musst es nichtmal verstehen. Hier und Heute gibt es einen sicheren Raum für dich. Und ich brauch die ganz dringen in meinem Leben.“
Die restlichen Schritte der Aufstellung nutzen wird um diese Erfahrung zu zementieren und fassbarer zu machen. Am Ende der Aufstellung kann er mit einem gewissen wohlwollen auf die inzwischen schon verstorbene Mutter schauen. Auch die Situation im Supermarkt hat für ihn nichts beunruhigendes mehr.
Dieses Thema zeigt seht schön, wie sich die innere Zerissenheit einer engen Bezugsperson auf ein Kind auswirken kann. Anstatt die eigene Lebendigkeit wertschätzen zu können - und wertgeschätzt zu spüren -, lernt es seine Lebendigkeit zu unterdrücken, zu verformen und zu regulieren, so dass sie werde einem selber noch der Bezugsperson „gefährlich“ werden kann. Und es lernt sich für die Spannung und die Dysregulation des Erwachsenen verantwortlich zu fühlen. In der kindlich illusionären Überzeugung auch den schwersten Dampfer noch auf Kurs halten zu können und zu müssen.
Erst wenn erkannt wird, wo dieses alte Programm herrührt und was es mal für einen Nutzen hatte, kann es losgelassen werden. Dann wird deutlich, dass es eine Zeit gab, wo das Muster einen wichtigen Nutzen hatte. Aber es wird auch deutlich, dass es jetzt mehr Probleme macht, als es nutzt. „Schließlich ist es ja nicht mein Problem, wenn da irgendwer im Supermarkt einen Tobsuchtsanfall bekommt. Wenn sowas nochmal vorkommt, dann werde ich den kleinen Bernd in Zukunft aus der Schusslinie nehmen und ihm sagen, dass das nicht seiner Aufgabe ist. Er soll lieber spielen gehen.“
Lieber Phil, danke für den Beitrag. Besonders wichtig scheinen mir die Sätze: Im Idealfall durchläuft eine gesunde Beziehung Phasen der Nähe und Distanz, die sich wie Ebbe und Flut abwechseln und eine Beziehung zu einem Tanz machen. Das schafft Freiraum und Verbundenheit und gibt eine Beziehung etwas Lebendiges, Organisches und Wachstumsfähiges. Voraussetzung für ein Selbst-bestimmtes Leben (Autonomie) ist ja die Verbindung mit dem eigenen Selbst – mit der „Essenz“ oder mit dem "göttlichen Funken" nach Jung. Wir wissen ja dass dazu die Fähigkeit zur Abgrenzung erforderlich ist, um ein Gefühl für einen eigenen Raum zu bekommen. Die Voraussetzungen dazu werden in den ersten Beziehungserfahrungen eines Kindes gelegt. Wenn die Mutter zu Kind eine sichere Bindung hat, dann kann das Kind spielerisch ausprobieren, wie es ist, sich zu entfernen, und dann wieder zurück zur Mutter zu kommen. Dein Beitrag macht mir bewusst, dass dazu offensichtlich auch gehört, dass ein Kind selber Nähe oder Distanz zu den Bezugspersonen bestimmen kann, ohne dafür durch Ablehnung oder Schuldgefühle belastet zu werden!
Zitat von ero langlotz im Beitrag #2". Wir wissenn ja dass dazu die Fähigkeit zur Abgrenzung erfoderlich ist, um ein Gefühl für einen eigenen Raum zu bekommen. Die Voraussetzungen dazu werden in den ersten Beziehungserfahrungen eines Kindes gelegt. Dein Beitrag macht mir bewusst, dass dazu offensichtlich auch gehört, dass ein Kind selber Nähe oder Distanz zu den Bezugspersonen bestimmen kann, ohne dafür durch Ablehnung oder Schuldgefühle belastet zu werden!
Ja, das stimmt, lieber Ero. Ich könnte mir vorstellen, dass das ein Teil vor der Achtung des Selbst eines Kindes ist. Es wird als eine eigenständige Person gesehen. Auch wenn diese Person noch nicht voll präsent ist und sich noch entwickelt. Aber des Potential ist da und es ist in sich bereits ganz. Kann man dieses Rythmen von Nähe und Distanz zu, dann kann das Kind den eigenen Raum immer mehr erschließen und hat die Chance sich seines Selbst mehr bewusst zu werden.
Im Idealfall durchläuft eine gesunde Beziehung Phasen der Nähe und Distanz, die sich wie Ebbe und Flut abwechseln und eine Beziehung zu einem Tanz machen. Das schafft Freiraum und Verbundenheit und gibt eine Beziehung etwas Lebendiges, Organisches und Wachstumsfähiges.
Das bedeutet aber auch, Abgrenzung ist nichts Starres, sie "unduliert" flexibel zwischen Nähe und Distanz. Analog scheint es mir jetzt sehr stimmig, auch die Selbst-Verbindung nicht als etwas Starres, Festes zu verstehen, sondern ebenfalls als undulierend. In den Anforderungen des Alltags ist es ja unmöglich, ständig mit seinem Selbst verbunden zu sein?! Mir scheint jetzt eine andere Vorstellung viel stimmiger: zu wissen, dass es dies wahre Selbst gibt, und wie ich jederzeit mit ihm Verbindung bekommen kann. Z.B. indem ich in mir einen Raum schaffe für dieses Selbst - durch Meditation, durch Yoga oder TaiChi oder durch Autogenes Training - oder indem ich z.B. in die Natur gehe, um da mein Selbst zu spüren, dass sich als "Teil eines grösseren Ganzen" weiss.
Es ist in meinen Augen wichtig, dass man auch das Sich-Entfernen von seinem eigenen wahren Selbst als wichtigen Prozess in der Reifung des Menschen erkennt. Wir Menschen lernen Dinge im Allgemeinen über das Dual kennen, dementsprechend ist es sehr wichtig auch mal zu erfahren, wer ich NICHT bin um dann desto stärker zu erkennen, wer ich bin.
Eltern, die sehr gut mit ihrem wahren Selbst verbunden sind erlauben dem Kind in den Phasen des Wachstums ihre eigenen Grenzen auszuloten, diese zu übertreten um dann auch wieder zu sich selbst zurück zu finden.
Selbst traumatisierte Eltern fühlen sich durch diesen natürlichen Prozess des Kindes im Allgemeinen schnell überfordert und in ihre eigenen Ängste getrieben und versuchen das Kind (unbewusst) so zurecht zu biegen, dass das Verhalten des Kindes ihre eigenen Ängste möglichst nicht aktiviert.
Diese Verbindung wird dann meist als Liebe benannt.